Institut Deutsche Adelsforschung
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Ahnenforschung bei Ernestinern und Albertinern im 16. Jahrhundert

War die Genealogie Arabeske, Hobby, Phantasie oder mehr? 

Als der Königlich Bayerische Reichsarchiv-Assessor und Genealoge Dr. Christian Haeutle 1870 sein Werk „Genealogie des Erlauchten Stammhauses Wittelsbach: von dessen Wiedereinsetzung in das Herzogthum Bayern (11. Sept. 1180) bis herab auf unsere Tage“ vorlegte, so bewerkstelligte er dieses Vorhaben mit einer gewissen Intention, die bereits aus der Widmung hervorgeht, die er seinem Werk voranstellte. Darin schrieb er: „Allerdurchlauchtigster Grossmächtigster König! 

Allergnädigster König und Herr! Euere Königliche Majestät entstammen einem Herrschergeschlechte, das zu den ältesten und glänzendsten zählt im erhabenen Kreise der Regentenhäuser Europas. Auf seinem Ursprunge ruht geheimnissvolles Dunkel, hinter welchem Sage und Mythe seltsam durcheinander klingen. Seine Wurzeln verschlingen sich in die Geschlechter der Agilolfinger und Karolinger. 

Aber mächtig schon ragt sein Stamm in die Blüthezeit der Hohenstaufen und Welfen herein. Stolz geschmückt sehen wir seine Aeste mit den Wappenschildern der alten germanischen Dynastien, vieler romanischer Herrscher-Familien, mit denen der Arpaden, Prêmysliden und Piasten. Kein grosses Fürstenhaus unseres Kontinentes ist im Verlaufe der Jahrhunderte ohne nähere Verbindung mit Wittelsbach geblieben. Inniger jedoch und dauernder war die Liebe, mit der Bayerns Volk stets an seinem angestammten Herrscher-Geschlechte hieng [sic!]. 

In Euerer Königlichen Majestät Krone ist sie ja der kostbarste Diamant, dessen Glanz sich immer frisch erhalten hat in den schönen wie trüben Tagen des Vaterlandes. Auf jedem ihrer Blätter giebt die bayerische Geschichte davon beredtes Zeugniss. Diese Liebe zum Fürstenhaus und Vaterland, welche seit einem Jahrtausende Eines geworden sind, wach zu erhalten und noch zu erhöhen, ist die Absicht des Buches, das der Verfasser jetzt Euerer Königlichen Majestät allerehrerbietigst zu Füssen zu legen sich erkühnt. In kurzen Umrissen zwar nur, aber doch kenntlich zeichnet es die Urahnen Euerer Majestät, eine grosse Reihe erlauchter Heldengestalten und holder Frauengebilde mit allem Liebreize wahrer Schönheit. Möge ihr Anblick, ihr Ruhm, ihre Tugend jedes Herz, das warm für Wittelsbach schlägt, zu dem lebhaften Wunsche begeistern: Gott der Allmächtige erhalte und segne Euere Majestät auf immerdar! In allertiefster Ehrfurcht und Dankbarkeit geharrt Euerer Königlichen Majestät allerunterthänigst treugehorsamster Dr. Chr. Haeutle.“ [1]

Trotz dieser Widmung, die an der Wissenschaftlichkeit und Unabhängigkeit seiner Forschungen Zweifel läßt, besaß aber Haeutle einen wissenschaftlichen Anspruch im Sinne des Horizontes seiner Zeit. Er verwies daher auch ausdrücklich auf vorherige Arbeiten von Hofgenealogen und verarbeitete diese kritisch. Aus diesem Grund verzichtete Haeutle auch auf die Wiedergabe von einzelnen Ahnenportraits aus der Schleissheimer Ahnengalerie, die er als „Phantasie“ bezeichnete (so die Portraits Otto I. und Ludwig I.).[2]

Auf diese Weise war es Haeutle möglich, widerspruchslos zugleich fürstliche Ruhmvermehrung mit kulturellem Kapital und  Wissenschaftlichkeit miteinander zu vereinbaren. Der aus seiner Sicht verständlichen Kritik an früheren genealogischen Arbeiten und an der Ahnengalerie des Schlosses Schleißheim [3] ist lange Zeit mit dem Phantasie-Etikett versehen worden. Dieser Vorwurf erhöhte allerdings die eigene Stellung als Historiograph, er ist damit vielfach eine Standortbestimmung von Verfassenden, die sich von Vorgängerwerken absetzen wollten. 

Dass ein Blick auch auf derlei „phantastische“ Gebilde der Genealogie früher Fürstengeschlechter lohnend sein kann, zeigt nun Olav Heinemann in seiner Dissertation über die Wettiner. Sein Werk „Das Herkommen des Hauses Sachsen. Genealogisch-historiographische Arbeit der Wettiner im 16. Jahrhundert“ nimmt diesen frühneuzeitlichen Rahmen in den Fokus und untersucht detailliert die Art und Weise genealogischer Arbeit. Damit reiht sich Heinemann in den „Memorial turn“ der Geschichtswissenschaften ein, ohne darauf explizit Bezug zu nehmen, wenn er auch gleichwohl Jan Assmanns Gedächtnistheorie heranzieht. 

Dabei geht es im Wesentlichen nicht um die Untersuchung der Wahrhaftigkeit bestimmter Aussagen, sondern um die Instrumentalisierung von Genealogie zu bestimmten Zwecken. Heinemann legte diese Zwecke gekonnt offen und kommt dabei zu überraschenden Ergebnissen. Thorstein Bundle Veblen nahm in seiner 1899 entstandenen und erst später ins Deutsche übersetzten Untersuchung noch an, dass Genealogie vor allem ein Mittel zur Prestige-Erzeugung war, das relativ gleichförmig eingesetzt wurde. [4] 

Heinemanns Analyse aber sagt aus, dass die genealogische Verwendung bei den Wettinern differenziert betrachtet werden müsse. So gab es Zeiten, in denen die historiographische Arbeit ausgesetzt wurde, während in anderen Zeiten – und bei anderen äußeren Anlässen –  gleich doppelt Genealogen angestellt wurden, um die Ergebnisse der einen Forschung mit der der anderen in einer Art Vor-Peer-Review-Verfahren miteinander abzugleichen. 

War für die Ernestiner die Reichsausrichtung und ihr Verwandtschaftsnachweis zu den Ottonen wichtig, so für die Albertiner die Aufrechterhaltung des Anspruchs auf Teilhabe wider die Ernestiner. Entsprechend wurden die Genealogien in ihrer Abfassung anders gewichtet und (re-) konstruiert. Heinemann zeigt gekonnt in zwei großen analytischen und dann in zwei zusammenfassenden Kapiteln diese Mehrfachbedeutung der Familienstammfolgen und verdeutlicht damit ihr allgemein hohes symbolisches Kapital.

Das Kapitel „5. Die drei Körper des Fürsten“ des Buches weist über den engen mitteldeutschen Rahmen hinaus, indem Heinemann vorschlägt, in Anlehnung an die Kantorowiczsche Theorie der zwei Königskörper für einen Fürsten drei Körper in einem `Corpus princips tripartium´ anzunehmen: Der natürliche Körper des Fürsten, sein politischer und sein dynastischer Körper seien demnach auf die Person projiziert worden. 

Die Medien Portrait, Wappen und Karte würden demgemäß symbolisch stehen für die Verkörperungen eines Herrschers als Person, als Angehöriger einer Dynastie oder eines `Hauses´ und als herrschaftlicher Amts- und Funktionsträger (tabellarisch zusammen gefaßt hat dies Heinemann auf Seite 371 seines Werkes). Diese Erweiterung des Modells von Kantorowicz erscheint im Zusammenhang mit der Untersuchung von Genealogien sinnvoll und stuft sie in ihrer Bedeutung zu gleichwertigen Ausdrucksmitteln symbolischen Kapitals ein. Die damit verbundene Abkehr der Abwertung von Ahnenreihen und Stammfolgen wird bei Heinemann daher umgekehrt. 

Mit Hilfe seines dreiteiligen Modells läßt sich immerhin sinnvoll auch die Genealogie in die Erzeugung von Persistenz – eines der Kerncharakteristika sowohl der Adels- als auch der Herrscheridee – einreihen. Sie ist hier nicht mehr länger nur Anhängsel und auch nicht nur Memoria, sondern wies, so besehen, auch in die Gegenwart und Zukunft einer Dynastie; letztlich diente sie damit auch der Sicherung von Herrschaft. Heinemanns Modell kann daher weit über seinen eigentlichen Untersuchungsraum hinausweisen und bietet sich an, um bei der Analyse auch anderer genealogischer Herrscherbemühungen anderer Häuser allgemein Bedeutung zu erlangen. Heinemanns 474 Seiten starke Dissertation an der Universität Duisburg-Essen, reich farbig bebildert mit 62 Ablichtungen und Beispielen von Portraits, Wappen und genealogischen Tafeln, ist im Leipziger Universitätsverlag erschienen und kostet 80 Euro im Buchhandel. 

Vor dem Hintergrund dieser Studie erscheinen daher nun auch die anfangs angerissenen Ausführungen Haeutles in anderem Lichte. Möge sie daher auch weitere Studien anregen, Genealogie, Heraldik und Bildniskunst unter erweitertem Blickwinkel zu betrachten. Denn wie Heinemann gekonnt gezeigt hat, ist dies ein lohnendes und erkenntnisreiches Unterfangen.

Diese Rezension stammt von Claus Heinrich Bill M.A. B.A. und erscheint ebenso gedruckt in der Zeitschrift für deutsche Adelsforschung.

Annotationen: 

  • [1] = Christian Haeutle: Genealogie des Erlauchten Stammhauses Wittelsbach von dessen Wiederiensetzung in das Herzogthum Bayern (11. Sept. 1180) bis herab auf unsere Tage, München 1870, Seite VI.-VII.
  • [2] = Ibidem, Seite XIII.
  • [3] = Anführen ließen sich nach ähnlichen Konzeptionen die Ahnengalerie der Württemberger im Schloß Ludwigsburg oder die der Mecklenburger im Schloß Schwerin, auch wenn dort eher großformatige Portraits in den Raum eingebunden wurden und es sich dabei nicht um eine fortlaufende Text-Bild-Komposition aus einem Stück handelte.
  • [4] = Siehe hierzu Thorstein Bundle Veblen: Theorie der feinen Leute, Köln 1958, Seite 163 (Prestige diktiert die Normen für Güter, Sitten und Rituale).

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