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Wahrnehmungen von Harnischen als aristokratisierende AktantenZur Vielfalt von Rüstungsartefakten seit der Renaissance im deutschsprachigen RaumIm Jahre 1880 hob eine illustrierte Wiener Zeitung den Prunkharnisch des Habsburgers Rudolf II. (1552-1612), Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, als besonderes Kunsthandwerksstück hervor; sie schrieb: „Die Waffen-Sammlung des österreichischen Kaiserhauses im Arsenal enthält eine große Anzahl äußerst seltener und kostbarer Stücke. Eines der hervorragendsten Objecte dieser berühmten Sammlung legen wir heute unseren Lesern in sorgfältiger Nachbildung vor. Es ist aus dem mit besonderer Pracht und besonderem Geschmack ausgestatteten, Sr. Majestät dem Kaiser von Oesterreich gewidmeten Werke des Regierungsrathes Quirin v. Leitner, ‚Die Waffen-Sammlung des österreichischen Kaiserhauses im k. k. Artillerie Arsenal zu Wien‘ (Verlag von H. Martin in Wien) entlehnt. Dieser herrliche Harnisch ist, wie neuere Forschungen unzweifelhaft darthun, nach einem Entwürfe des Münchener Malers Christoph Schwarz († 1597) ausgeführt worden. Der Harnisch ist sowohl durch die geniale Anordnung und die vollendete künstlerische Durchbildung aller Theile der reichen Ornamentirung, als auch durch die unübertreffliche technische Behandlung der hochgetriebenen und mit Gold tauschirten Bilderwerke, nicht allein das werthvollste Stück des k. k. Hof Waffen Museums, sondern es kann sich auch überhaupt keine zweite Sammlung eines solchen Meisterwerkes rühmen, das selbst die herrlichen Prunkharnische der gleichzeitigen größten italienischen Meister weit überragt. Der Stahl des ganzen Harnisches ist matt grau gehalten und bildet dieser Ton den Grund, aus welchem sich die hochgetriebenen geschmackvollen Arabesken mit den eingestreuten phantastischen, allegorischen und mythologischen Darstellungen abheben. In den figürlichen Darstellungen sind alle nackten Körpertheile blank gehalten, die Bekleidung und manches Beiwerk aber mit Gold tauschirt. Diese Tauschirung ist von unaussprechlicher Zartheit, und der Künstler wußte durch weises Maßhalten in der Anwendung des Goldes die in Fülle und Frische die ganze Ornamentirung durchgeistigenden Gestalten zu erwärmen und zu beleben, ohne die harmonische Totalwirkung zu beeinträchtigen. Von diesen figuralischen Darstellungen verdienen vor Allem die aus Brust und Rücken dargestellten Thaten des Herkules besondere Beachtung, u.[nd] zw.[ar] in der Mitte der Brust: Herkules im goldenen Schuppenrock auf die Keule gestützt: – zur Rechten: Herkules, den Cerberus bändigend; – zur Linken: Herkules, die lernäische Hyder bekämpfend; – auf den beiden Vorderflügeln: der Kampf des Herkules mit dem Antäus; – am Rücken, in der Mitte: Hercules die beiden Säulen haltend; – zur Rechten: die Einfangung des kretensischen Stieres; – zur Linken: der Kampf mit dem nemäischen Löwen. Der tiefreichende Panzerschurz gehörte ursprünglich nicht zu diesem Harnische, sondern ist eine spätere Beigabe, um den Obertheil der Diechlinge, wo zwei Folgen fehlen, zu verdecken.“ [1] Zur Zeit der Publikation des Artikels war mithin der Harnisch als Repräsentationsaktant [2] schon nicht mehr im unmittelbaren Einsatz am Körper des Kaisers, aber immer noch an hervorgehobener Stelle, in der Presse und im Museum, so kann vermutet werden, mittelbar den „splendor familiae“ des Hauses Habsburg miterzeugend. [3] Derartige Harnische, die mehr symbolischen Aktantenzwecken denn dem wirklichen Kampf dienten, werden indes auch behandelt in einer neuen Ausstellung des Kunsthistorischen Museums Wien. Die unter dem körperertüchtigenden (und daher leicht irreführenden) Titel „Iron Men – Mode in Stahl“ erzeugte Schau hat zudem lobenswerterweise einen Katalog hervorgebracht. [4] Dieser hebt aus multiperspektivischer Sicht die Funktionen der Harnischaktanten, allerdings bedauerlicherweise nur als Objekte oder Artefakte, in den Kulturwissenschaften oder in der Europäischen Ethnologie (Volkskunde) gern mit der Vokabel „Sachkultur“ bezeichnet, hervor. Dennoch ist die Multifunktionalität, die mit den Harnischen in ihrer Gebrauchszeit, vor der Musealisierung, verknüpft war, beeindruckend. Im Katalog wird darauf detailliert in Wort wie Bild eingegangen. Es kommen dabei Genderaspekte wie männlich konnotierte Rüstungen mit weiblich konnotierten Rockansätzen, Harnische an Frauen und bewaffnete Frauen in der europäischen Vorstellungswelt ebenso zur Sprache wie Harnische als Mittel männlich sich ausdrückender Selbstdarstellung in Form der armierten Schamkapsel in der Mode der Renaissance. Auch wird nicht nur ein Blick auf die metallenen Aktanten selbst geworfen, sondern auch ihr Herstellungsprozeß nachgezeichnet, dabei aufgezeigt, wie viele beruflich spezialorientierte Gewerke daran mitwirkten. Auch das Harnischzubehör wird eigenes beleuchtet, ferner, ausgehend von dieser Materialität, dann aber auch die Rekonstruktion des Gebrauchs des Harnisches zwischen Geburt und Tod eines Edelmanns in der Renaissance. Außerdem werden Selbsterfahrungen der Verfassenden beim Tragen von Harnischen als „Bericht aus der Gegenwart“ präsentiert, um auch Annäherungen an die körperliche und ästhetische Praxis der „performing clothes“ nachzuvollziehen, die mit dem Tragen solcher metallener Kleidung aus miteinander verbundenen Gliederstücken einhergeht. [5] Hier werden Fragen nach dem Tragekomfort, nach Hitze, Belüftung, Bewegungsfreiheit, Gewicht und nach den Bewegungsgeräuschen der Armierung beantwortet. Auch weist der Katalog Thematisierungen verschiedener Mode- und Stilrichtungen der Ausfertigungen – so „alla Turca“ als kulturelle Aneignung in einem Orientalismus und „all’antica“ im Rückgriff auf das Vorbild der Antike – auf. Diese Vielfalt wird unterstützt durch einen reichen Abbildungsteil, der in den jeweiligen thematischen Aufsätzen Details hervorhebt, aber auch Ganzkörperabbildungen bringt. Dazu wird in einem den Band abschließenden Dokumentationsabschnitt jedes der 164 Exponate in der Ausstellung – darunter auch Maskenharnische, Kinderharnische, Funeralhelme, flächige Abbildungen, Unterkleidung, Turniergerätschaften, selbst Sättel – in einem jeweils (leider allzu) kleinen Bild mit entsprechenden Objektdaten aufgeführt. Insgesamt liegt damit ein eindrücklicher Katalog vor, der zudem von einer Reihe von Videos und piktoral dominierten Beiträgen des Kunsthistorischen Museums in den sozialen Medien begleitet werden, die populäre Vermittlungen des Themas in einem „Public history“-Ansatz beinhalten, um heutige Besuchende anzusprechen. Die populäre Orientierung der ganzen Schau erscheint jedoch ambivalent, macht sich im Band bedauerlicherweise immer wieder negativ bemerkbar, indem die Verfassenden an verschiedenen Stellen des Katalogbandes zwar um die Gunst des Publikums buhlen, dann aber die Verfassenden der Texte mit Schimpfklatsch auf das Alltagswissen um Harnische reagieren. Dieser Versuch, alltagswissentliche Bestände an Auffassungen zu kritisieren, zeugt bedauerlicherweise von einer abwertenden Haltung gegenüber einer kollektiven Meinung. Dazu sollen gern zwei exemplarische Belege herangezogen werden. In einem der Beiträge heißt es beispielsweise (Seite 133): „Eine der am häufigsten gestellten Fragen zum stählernen Harnisch des späten Mittelalters und der Renaissance betrifft dessen Gewicht. Wie schwer ist er und wie beweglich wäre ich, würde ich einen am Körper tragen? In dieser Frage schwingt zumeist eine vermeintlich logische Antwort mit: Ein Harnisch besteht aus Eisen, daher muss er, so die Annahme, untragbar schwer sein und mich in meiner Beweglichkeit massiv einschränken. Diese Vorstellung ist – mit einzelnen, speziell begründeten Ausnahmen – moderner Unsinn.“ Damit wird die heute weit verbreitete Auffassung, obwohl ihr anfangs noch eine gewisse Logik zugesprochen wird, am Ende der Ausführung leider nicht sachlich behandelt, sondern ad absurdum geführt, indem nun behauptet wird, diese Ansicht sei ohne jeden Sinn, sei sinnlos, habe keinen Sinn. Pierer definiert indes „Unsinn“ als „Schwäche od.[er] Verwirrung des Verstandes, welche sich durch das Bestreben andeutet, Begriffe zu verbinden, welche keiner Verbindung fähig sind“ und bezeichnet dann auch in einer zweiten Bedeutung des Wortes „die verkehrte Ideenverbindung selbst“. [6] Dass die Annahme, Eisen sei schwer, im Alltagswissen aber Sinn macht, wird hier nicht nur kurzerhand negiert, sondern verurteilt, ihr Sinngehalt wird den Äußernden dieser Meinung abgesprochen. Ein anderes Beispiel begegnet den Lesenden bereits in dem rahmenden Vorwort (Seite 14): „Aus diesem Grund ist es von besonderer Bedeutung, auf die wenigen original erhaltenen Harnische des Spätmittelalters und der Renaissance zu blicken statt auf moderne Filmrequisiten; auf die Lebensrealität adeliger Männer jener vergangenen Epochen statt auf Heldenerzählungen unserer Zeit.“ Weiter wird dann, nun glücklicherweise ohne der gezeigten Schimpfklatschneigung weiteren Raum zu geben, mit einem großen Erstaunen auf die Mannigfaltigkeit des Harnisches eingegangen, als sei dies eine bahnbrechende neue Entdeckung im Gegensatz zum Alltagswissen, denn weiter heißt es: „Das Thema des stählernen Harnischs stellt sich bei näherer Betrachtung als wesentlich komplexer dar, als wir erwarten würden. Es ist voller Nuancen, die wir im frühen 21. Jahrhundert mitunter nicht mit der Kultur jener Zeit in Verbindung bringen würden.“ (Seite 14-15). Mit Matthiesen aber ist nachgewiesen, daß sich Alltagswissen und Wissenschaftswissen grundsätzlich hinsichtlich ihrer Wissenstiefe unterscheiden [7] und daß dies ein ganz gewöhnlicher Befund ist, der keiner Aufregung oder besonderer Erwähnung bedürfte. An dieser Stelle macht es sich vermutlich bemerkbar, daß diese erstaunten Beurteilungen von Verfassenden stammen, die eher monodisziplinär geschult erscheinen [8] und das Zusammenspiel von wissenschaftlichem und Alltagswissen bekämpfen möchten. Eine sozialhistorische Orientierung hätte hier Abhilfe schaffen können, denn als kollektive Meinung ist das Alltagswissen, um mit Durkheim zu sprechen, eine Art „soziale Tatsache“, die nur langsam und nur kollektiv zu verändern ist, [9] gleichwohl aber eine deontische Macht besitzt, [10] die, auf der Kraft impliziten oder ruhenden Wissens beruhend, bei Bedarf im Alltag aus der Sozialisation jedes Menschen re/aktiviert wird. [11] Immerhin gibt man aber zu, daß dieses Alltagswissen auch eine Aktantenfunktion hat und wirkt, selbst wenn sich die Verfassenden von ihr teils bedroht fühlen. Dieses Verfahren der Wissensdifferenzierung und -diskriminierung hat indes leider Tradition, auch speziell in der Adelsforschung, in der beispielsweise Schwering (1985) betont hatte: „Als ein weiteres Adelsstereotyp erscheint [...] die an Immoralismus grenzende Zügellosigkeit im erotisch-sexuellen Bereich.“ [12] Diesen Ansätzen gemein ist eine Verachtung des Alltagswissens, das jedoch auch durch die Herabwürdigung nicht zu beseitigen ist, sondern überdauert, zumindest neben wissenschaftlichen Meinungen fortwährend existiert. Wie man mit Watzlawick sagen kann, daß man in Interaktionen nicht nicht kommunizieren könne, so kann auch Alltagswissen nicht nicht bestehen, da es unter Menschen stets Interaktionen gab und diese in einer Gesellschaft nicht einfach „verschwinden“ konnten. Ebenso fruchtlos bleibt der Versuch einzelner Verfassender des Kataloges, Alltagswissen nach wissenschaftlichem Wissen umformen zu wollen, um ihm eine neue Legitimität zu erteilen, weil sie dann, beruhigend für das eigene Weltbild und kognitive Dissonanz vermeidend, der eigenen Auffassung von Wissen entspricht. Man hätte daher eine Versöhnung anstreben oder die Erwähnungen ohne Schimpfklatsch durchführen können. [13] Warum letztlich im Harnisch-Katalog der Schimpfklatschweg beschritten wird, bleibt erklärungsbedürftig und offen, zumal wissenschaftliches Wissen und Alltagswissen ganz unterschiedlichen Zwecken dien(t)en, einmal im wissenschaftlichen Wissen der reflexiven und zeitintensiven Ergründung eines Phänomens, dann im Alltagswissen dem pragmatischen Alltagsvollzug ohne Zeitverzug. [14] Außerdem hat das Wissenschaftswissen genügend wertvolle Erkenntnisse zu bieten, so daß deren Träger*innen es nicht nötig hätten, das Alltagswissen über den Gegenstand, über den sie eine Deutungshoheit anstreben und beanspruchen, abzuwerten. Dies gilt auch für den Harnisch-Katalog. Denn er bietet eine so reiche Mannigfaltigkeit der Forschungs- und Vermittlungsansätze der „Public history“, daß man am Urteil des Anonymus aus dem Jahre 1880, der rudolfinische Prunkharnisch sei „das werthvollste Stück des k. k. Hof Waffen Museums“, nicht (mehr) festhalten muß. Die myrioramatischen Verwendungsweisen des Harnischs als Aktant, vor allem im kriegerischen und Hochadel, zeitgenössisch sich wandelnden Gendervorstellungen ebenso wie Moden unterliegend, werden in dem Katalog hinreichend, faszinierend und anschaulich re/präsentiert, und nicht zuletzt ist der Katalog ebenso wie die Ausstellung wiederum selbst ein Aktant, der die Thematik in einen neuen Fokus rückt und an der fortwährend in Wandlung begriffenen Gruppenbildung des Wissensnetzwerks der Harnischkultur mitwebt. [15] Dieser Aufsatz stammt von Dr. phil. Heinrich Bill, M.A., M.A., M.A., B.A., und erscheint zugleich in der Zeitschrift für deutsche Adelsforschung in gedruckter Form. Annotationen:
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