Institut Deutsche Adelsforschung
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Herrensitze in Schleswig-Holstein als Adelsaktanten

Dokumentation aristokratisierender Fachwerk- und Steinbauten

Im Jahre 1765 erschien seitens eines anonymen Autors die Beschreibung eines Gutshauses der schleswigschen Karrharde, das nebst Ländereien und Nebengütern (dem Gut Gaarde und dem Meierhof Berg) am 5. Jänner 1765 von dem Predigersohn Henning Herrn (1732-1802) für 47.000 Reichstaler käuflich erworben worden war, in der es hieß: „Das Adeliche Guth Fresenhagen lieget in dem Fürstenthum Schleswig in einer angenehmen und plaisant-situirten Gegend und zwar 3 Meilen von Flensburg, 5 Meilen von Schleswig, 4 Meilen von Husum, und 2 Meilen von Tondern, wohin die Producten der Gühter, und was daselbst vorfällt, an Korn und fette Waaren sowohl, als was aus dem Garten kann gelöset werden, ganz bequem und nahe verfahren, und verkauft werden kann […] Zu dem Haupt-Guhte Fresenhagen gehören an Gebäuden:

Ein hübsches logiables Wohnhaus, doch nur von einer Etage, worin einige Zimmern mit tapeten ausgeschlagen, mit Brand-Mauren rund um aufgeführet, und welches 1754 so gut als neu gebauet, und mit Zimmern versehen, so daß eine herrschaftliche Familie commod und gut darin wohnen könne. Es ist 15 Fach oder 53 Ellen lang, und 14 Ellen breit: Die Küche dabey, welche vor 5 á 6 Jahren neu ausgebauet, ist von 4 Fach oder 13 Ellen lang und 23 Ellen breit, wobey zwo ordentliche Stuben angebracht, worin die zur Haushaltung nötige Frauens-Personens logiren können. Ein bequemer verschlossener Hühner-Stall, von Brand-Mauren rund um aufgeführet, imgleichen ein schöner Keller, und oben über eine Speise- zu der Haushaltung erforderliche Milch- und Butter-Kammer, welche wohl verwahret und verschlossen werden kan[n].“ [1]

Das hier anhand eines schleswigschen Gutes exemplifizierte sachliterarische Genre, das sich aus unterschiedlichsten Gründen den Guts(haus)beschreibungen widmet, war indes nicht nur historisch ein überaus beliebter Zweig der Schriftstellerei, sondern erfreut sich auch heute noch großer Beliebtheit. Das mag nicht zuletzt daran liegen, daß Gutshäuser vergangene Bauformen sind, die als historische Denkmale und Bauzeugnisse in ihrem Bestand gefährdet sind, gleichwohl aber einen bedeutenden Beitrag zur Architekturgeschichte einer ehedem gutslandschaftlich geprägten regionalen Gegend darstellt. Aber diese Häuser sind zugleich oft auch Adelsgütermittelpunkte gewesen, so daß Bücher und Forschungsprojekte über Gutshöfe stets auch Forschungen zur Aristokratie bieten. Insofern ist die nunmehr überarbeitete dritte Auflage eines Buches von Deert Lafrenz, einem Altmeister der schleswig-holsteinischen Denkmalpflege, [2] zu begrüßen, der 2023 sein aktualisiertes Lebenswerk „Gutshöfe und Herrenhäuser in Schleswig-Holstein“ der Öffentlichkeit übergeben hat, in dem er rund 300 entsprechende Anlagen in Wort und Bild sowie in Form eines Überblicke vermittelnden Handbuches beschreibt. [3]

 Der Titel der zweibändigen Publikation die wegen des zugenommenen Umfangs zweibändig verlegt wurde, hat indes einige Tücken in sich. Man wird hier nach Eingängigkeit gehen müssen und insofern ist es verzeihlich, daß der Titel ungenau erscheinen mag. So sind zwar entsprechend dem Buchtitel Schlösser, also Residenzen regierender Landesfürsten, erwartungsgemäß nicht behandelt worden (beispielsweise Gottorf, Eutin, Glücksburg, Kiel, Husum, Plön, Reinbek), [4] aber es gibt doch auch Einschränkungen in der Gutsauswahl, da fast ausschließlich „adelige Güter“ behandelt werden (Band I, Seite 9; fort dann allerdings etwas ungenau beschrieben als „Gutshöfe und Herrenhäuser des Landadels, später auch des grundbesitzenden Bürgertums, eben die adligen Güter“), jedoch nicht diejenigen, die nördlich der heutigen deutsch-dänischen Grenze lagen, obschon sie ehemals dem zweiten Angelner Güterdistrikt angehört haben. [5]

Dieser Fokus bringt es mit sich, daß einige Gutshäuser oder Herrenhäuser in der Publikation nicht behandelt worden sind, so beispielsweise das 1902/03 im Jugendstil erbaute nichtadelige Gutshaus Kleve im Steinburgischen (es fehlt in Band I, Seite 326 zwischen Kletkamp und Klinken). Die Titelungenauigkeiten sind jedoch marginal. Hervorzuheben sind die vielen Photographien, die Kurzbeschreibungen der Güter, die stets dem gleichen Muster folgen: Es werden überall die beiden Rubriken „Historisches“ und „Bauten“ bedient, darüber hinaus noch gegebenenfalls „Gärten“, ferner „bauhistorische Exkurse“ angeschlossen, wenn sich entsprechende Besonderheiten auf dem jeweiligen Gut befinden; so wird bei der Schilderung von Gut Drült (bei Kappeln) auf die Besonderheit von vier Fassaden eingegangen (Band I, Seite 159-160) oder bei Gut Salzau auf zwei dem Hauptgebäude vorgelagerten Seitenflügeln (Band II, Seite 550) hingewiesen. Besonderheiten der Darstellung sind außerdem die jedem Beitrag beigefügte Lage im Land nach dem Muster „Unmittelbar an der Ostsee, westlich von Oldenburg, Kirchspiel Hohenstein, Gemeinde Wangels, Kreis Ostholstein“ (hier für Weißenhaus, Band II, Seite 673), wenn auch leider eine Karte aller besprochenen Anlagen fehlt, man also nicht gezielt nach Herrensitzen in einzelnen Kreisen oder Gegenden suchen kann. Hier kann man seine Suche aber mit den bekannten Rumohrbänden kombinieren, denen jeweils Karten beigefügt worden sind. [6]

So erhält man, teils auch mit Grundrissen versehen (beispielsweise Band II, Seite 653 bei Tremsbüttel), aktuelle Besitzendenangaben ebenso wie denkmalschützerische Details, was dem ehemaligen Berufsfeld des Verfassers zu verdanken ist, der bei der Landesdenkmalpflege beschäftigt war. Vorteilig ist, daß nicht nur aktuell noch bestehende, sondern auch bereits abgebrochene Häuser mit historischen Aufnahmen integriert worden sind (beispielsweise bei Wesebygaard bei Hörup im schleswig-flensburgischen Kreise, Band II, Seite 680), nur in wenigen Fällen fehlen Photos der heutigen Herrenhäuser (so beispielsweise bei Manhagen, Band II, Seite 411). Literaturnachweise, vor allem solche auf Schröder und Oldekop, aber auch auf diverse andere Erscheinungen der Vergangenheit, komplettieren die Schilderungen. Neben Außenaufnahmen sind auch die Innenaufnahmen von Zimmern und Sälen wertvoll (so zum Beispiel bei Wahlstorf bei Preetz am Lanker See, Band II, Seite 664), zumal die meisten der Herrenhäuser nicht besichtigt werden können und sich in Privatbesitz befinden (so beispielsweise Hanerau, Band I, Seite 253).

Andere Herrenhäuser wiederum gingen in die öffentliche Nutzung über (Schloß Ahrensburg, Band I, Seite 36 oder Hagen, Band I, Seite 247), sind Museen oder für Veranstaltungen für weitere Kreise gegenüber geöffnet worden. Deert Lafrenz hat insgesamt mit seinen Ausführungen und Bebilderungen der adeligen Baukultur Schleswig-Holsteins ein Mammutwerk geschaffen, das eine situative und zugleich Ereignisketten initiierende (Wieder-) Aufführung von Adelskultur mit baulichen Aktanten [7] in gelungener Weise bewerkstelligt. Denn das Doppelbuch ist sowohl eine Wiederaufnahme älterer Werke, als auch Ausgangspunkt kunst- und adelshistorisch orientierter neuer Ereignisströme, ein literarisches Museum für schleswig-holsteinische Adelskultur, wie es dies „Schloß“ Ahrensburg im Stormarnischen gegenständlich ist. Dabei gilt mit Boltanski, daß diese Herrenhäuser „als patrimoniales Gebäude par excellence“ gelten können; in dem sich „das Gefühl der Zugehörigkeit zum Adel verkörpert, weil in ihm die Beziehung zwischen einem Namen, einem Titel und einer Geschichte eine materielle Wurzel findet.“ [8]

Für Herrrenhäuser gilt daher auch in besonderem Maße: „Das Selbstbild eines Adeligen ist so beschaffen, dass er die Erinnerung daran aufrechterhält, dass er eine Geschichte hat, dass er Geschichte ist, und wie jede Erinnerung muss sich diese Erinnerung, damit sie erhalten bleibt und weitergegeben werden kann, nicht nur in Körper, sondern auch in Dinge und Situationen einschreiben, die sich aus dem Kontakt mit diesen Dingen ergeben.“ [9] Aber auch über den engen Kreis der Besitzenden und Nutznießenden der Herrenhäuser hinaus erleben derlei Gebäude große öffentliche Nachfrage. Das gilt nicht nur für kunsthistorische Interessierte, sondern auch für eine ganze Reihe neuer Kulturtouristen mit Interesse an immersiven Zeitwohn-Erlebnissen, wie sie tageweise über Ferienwohnungsportale angeboten werden. [10]

Diese aktuelle Nachfrage wurde ausgelöst unter anderem durch den Shabby Chic mancher noch in Renovierung befindlicher Gutshäuser oder auch den Glanz vollständig renovierter Häuser, die alle über eine Art „patrimoniales Ethos“ verfügen. [11] Dies gilt indes auch für manche Häuser, die in der Neuerscheinung von Lafrenz beschrieben wurden; auch sie können teils als Ferienwohnungen für Besuchende immersive Erlebnisse bieten, so beispielsweise Emkendorf am Westensee (Band 1, Seite 172-177), Groß Zecher (Band I, Seite 223-224), Hoyerswort in Nordfriesland (Band I, Seite 291-293) oder Panker (Band II, Seite 484). Ferienwohnungen sind jedoch nur eine der wirtschaftlichen Standbeine der Herrenhäuser, die vielfach nicht mehr Zentren einer Landwirtschaft sind; sie müssen heute anders finanziert werden (so beispielsweise Kaltenhof, Band I, Seite 304-305), wenn sie nicht über Ländereien verfügen (wie zum Beispiel Johannistal, Band I, Seite 300-301).

Lafrenz portraitierte indes nicht nur offensichtlich als Herrensitze zu erkennende Gebäude, sondern auch Häuser, die äußerlich kaum als Herrenhäuser zu erkennen sind (beispielsweise Klixbüllhof, Band I, Seite 328, oder Lindauhof, Band I, Seite 371). Insgesamt ist das zweibändige, sowohl voluminöse als auch inhaltsgesättigte Werk eine weitere gelungene schrift- wie bildaktliche Aufführung adeliger Lebens-, Bau-, Garten- und Wohnkultur der schleswig-holsteinischen Region aus der Zeit zwischen früher Neuzeit und der Formierungsphase der Moderne, die nach wie vor, trotz mancher Verluste an Bausubstanz, vor allem im nord- und südöstlichen Teil des Landes – dem ebenso fruchtbaren wie schwerbödigen Hügelland und seinen Teilen Angeln, Schwansen, Dänischer Wohld, Ostholstein, Stormarn und Lauenburg – noch immer ein überaus gutshausreiches Land darstellt.

Das Bewußtsein hierfür erneut geschärft zu haben, ist ein bleibendes Verdienst von Deert Lafrenz, aber auch dem Petersberger Imhofverlag, die damit beide mit einer gediegenen Ausstattung und schwergewichtigen Bänden auf gutem Kunstdruckpapier ein neues Denkmal für die norddeutsche Adelskultur zwischen den Meeren geschaffen haben.

Diese Rezension stammt von Dr. phil. Dr. phil. Claus Heinrich Bill M.A., M.A., M.A., B.A., B.A. und erscheint zugleich in der Zeitschrift für deutsche Adelsforschung in gedruckter Form. Annotationen:
  • [1] = Nomen Nescio: Eine richtige Beschreibung und Anschlag von dem Adelichen Guhte Fresenhagen, nebst dem Meyer-Hof Bärg genannt, wie auch von dem Guhte Gaarde, als einem separaten Guhte und dessen Zubehörungen, wie es anitzt unter jetziger Inspection zusammen betrieben wird. Fresenhagen, den 9ten Junii 1765, 10 Seiten; hier zitiert nach Seite 1-2.
  • [2] = Auf dem Buchdeckel hinten findet sich die Angabe: „Dr. phil. Deert Lafrenz, geboren 1944 in Eckernförde, Kunsthistoriker, war bis zu seiner Pensionierung 2009 Dezernent am Landesamt für Denkmalpflege in Kiel. Er hat von hier aus unter anderem 25 Jahre lang in der praktischen Denkmalpflege gearbeitet, hauptsächlich in den güterreichen Landkreisen Ostholstein, Plön und Rendsburg-Eckernförde, betreute aber auch zahlreiche Projekte in der Stadt Schleswig und in anderen Kreisen des holsteinischen Landesteils. In den letzten Berufsjahren war er wissenschaftlicher Inventarisator des Landesamtes, erstellte dabei die Denkmaltopographie für die Stadt Rendsburg und betrieb die Neubearbeitung des Dehio Schleswig-Holstein. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf dem Gebiet der ländlichen, speziell der Guts- und Herrenhausarchitektur dieses Bundeslandes.“              
  • [3] = Deert Lafrenz: Gutshöfe und Herrenhäuser in Schleswig-Holstein, erschienen in Petersberg am 4. Jänner 2023 im Verlag Michael Imhof im Format 24 × 29,7 cm, 2 Bände (Band I mit 408 Seiten und Band II mit 545 Seiten), erhältlich im stationären oder virtuellen Buchhandel um den Preis von 79,00 Euro, enthält insgesamt 1.173 Farb- und 70 schwarzweiße Abbildungen, beide Bände in Hardcoverbindung mit der ISBN 978-3-7319-1089-3.
  • [4] = Dazu jedoch Frank Jung: Nur 20 Prozent der Schlösser stehen noch. Ein neues Standardwerk spürt der Architektur der Schlösser in Schleswig-Holstein nach. Nicht nur um die sechs vorhandenen, sondern auch um 30 verschwundene Bauten geht es. Autor Deert Lafrenz spricht von einer ungewöhnlich hohen Verlustquote, in: Barmstedter Zeitung (Bermstedt), Ausgabe vom 10. Februar 2022, Seite 11.
  • [5] = Hierzu notierte J. Bremer: Kurzgefaßte Beschreibung und Geschichte von Schleswigholstein [sic!] für den Bürger und Landmann und zum Gebrauche in Schulen, Oldenburg / Schleswig: Verlag von C. Fränckel & M. Bruhn 1844, Seite 65-66: „der zweite angeler Güterdistrict umfaßt alle übrigen im ganzen Herzogthume Schleswig, mit Ausnahme der Insel Alsen, belegenen Güter, im Ganzen 27 Güter mit 15,200 Einwohnern. Zu nennen sind: Die herzoglich gravensteinischen Güter, Auenbüllgaard in Sundewitt, Aarup, südlich von Apenrade; Fischbeck, Gravenstein und Kieding, zwischen den beiden Theilen der Lundtoftharde belegen; alle fünf dem Herzoge von Augustenburg gehörig, zusammen mit 4600 Einwohnern. Zum Gute Gravenstein gehört der Flecken Gravenstein, in einer sehr schönen Gegend an einer Bucht des flensburger Meerbusens belegen, mit 450 Einwohnern und einem herzoglichen Schlosse. Unter den übrigen Gütern dieses Districts sind zu nennen: Gramm und Nübel, zwei mit einander verbundene Güter im Amte Hadersleben, zwei Meilen östlich von Ripen, mit dem Kirchdorf Gramm und 2500 Einwohnern; Reventlau-Sandberg, eine Grafschaft in Sundewitt, am sonderburger Sunde in den Kirchspielen Satrup und Düppel, mit 2200 Einwohnern; Seegaard, mit 1600 Einwohnern, belegen am seegaarder See zwischen Apenrade und Flensburg, mit dem ansehnlichen Kirchdorfe Kliplef, welches zwei Viehmärkte hat.“
  • [6] = Henning von Rumohr (neu bearbeitet von Cai Asmus von Rumohr): Schlösser und Herrenhäuser im Herzogtum Schleswig. Ein Handbuch, Würzburg: Weidlich 3. Auflage 1987, 432 Seiten;  Henning von Rumohr (neu bearbeitet von Cai Asmus von Rumohr): Schlösser und Herrenhäuser im nördlichen und westlichen Holstein. Ein Handbuch, Würzburg: Weidlich 2. Auflage 1988,  317 Seiten; Henning von Rumohr (neu bearbeitet von Cai Asmus von Rumohr): Schlösser und Herrenhäuser in Ostholstein. Ein Handbuch, Würzburg : Weidlich & Flechsig 3. Auflage 1989,  443 Seiten.  
  • [7] = Dazu notierte Christina Antenhofer: Die Akteur-Netzwerk-Theorie im Kontext der Geschichtswissenschaften. Anwendungen und Grenzen, in: Sebastian Barsch / Jörg van Norden (Hg.): Historisches Lernen und materielle Kultur. Von Dingen und Objekten in der Geschichtsdidaktik, Bielefeld:  Transcriptverlag 2020, Seite 67-88, Seite 80-82: „Eine besondere Eigenschaft historischer Relikte ist, dass sie aus der Vergangenheit in die Gegenwart hereinreichen. Das macht sie für historisches Lernen enorm wichtig. Man könnte auch sagen, sie sind Spuren der Vergangenheit oder Zeugnisse, die beweisen, dass es die Geschichte gegeben hat. Sie schaffen eine haptische Verbundenheit mit den Menschen der Vergangenheit – historische Relikte gilt es also, mit all ihrer Patina zu bewahren. Die Prägung des Begriffes Aura geht auf Walter Benjamin zurück. Er sah die Bedeutung der Geschichte allein in ihrem Hereinreichen in die Gegenwart, insofern aktualisiere jede Gegenwart ihre jeweilige Geschichte. Dem Gegenstand kommt in diesem Zusammenhang die Bedeutung zu, aus der Vergangenheit in die Gegenwart hereinzureichen, und es ist dieser Aspekt, der ihm seine Aura gibt […] Es ist also die Geschichte des Gegenstands, die ihm seine Aura verleiht, ein zeitlicher Faktor, der sich mit der Materialität verbindet und in den Gebrauchsspuren niederschlägt […] Die identitätsstiftende Bedeutung, die einzelne historische Relikte für lokale Gemeinschaften oder ganze Nationen haben, gehört zu den weiteren Faktoren der Agency insbesondere historischer Objekte, die sich in den daran generierten Narrativen abbildet.“ Zu diesen Dingen mit Agency oder Handlungspotential gehören gemäß der neuen Adelstheorie „un/doing nobility“ auch Herrenhäuser als aristokratisierende Dingaktanten; ein Aktant ist dabei nach Akrich (2006)  eine Entität, die „agiert oder Handlungen verlagert“; dies zitiert nach Madeleine Akrich / Bruno Latour: Zusammenfassung einer zweckmäßigen Terminologie für die Semiotik menschlicher und nichtmenschlicher Konstellationen, in: Andréa Belliger / David J. Krieger (Hg.): ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld: Transcriptverlag 2006, Seite 399.  Noch treffender definiert bei Bruno Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Berlin: Suhrkamp 2010, Seite 123; demnach ist ein Aktant „jedes Ding, das eine gegebene Situation verändert, indem es einen Unterschied macht.“ – Herrenhäuser waren solche steinernen (oder fachwerkhäuslichen) Aktanten, denn sie machten in einer relativen „longue durée“ einen Unterschied, da sie aus den üblichen Wohnformen, unter anderem wegen des meist großzügigen „space consuming“, aber auch ihrer prestigeträchtigen Anlage halber, herausragten. Zu den Grundzügen der neuen Adelstheorie siehe indes Claus Heinrich Bill: Konzept des Adelsbegriffs „Un/doing Nobility“, in: Institut Deutsche Adelsforschung (Hg.): Bildatlas zur deutschen Adelsgeschichte 4. Adelsgrafiken als Beitrag zur komplexreduzierten Aufbereitung von für die Adelsforschung dienlichen Theorien und Modellen, Sonderburg: Selbstverlag des Instituts Deutsche Adelsforschung 2018, Seite 40-41.
  • [8] = Luc Boltanski / Arnaud Esquerre: Bereicherung. Eine Kritik der Ware, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2018, Seite 125. Die deutsche Übersetzung des Titels (aus der französischen Sprache wurde das Werk von Christine Pries in die deutsche Sprache übersetzt) ist unglücklich gewählt, im Original heißt es besser „Enrichissement“, mithin „Anreicherung“.
  • [9] = Ibidem, jedoch Seite Seite 125-126.
  • [10] = Dazu siehe Annika Kiehn: Schlossherren und Spinner.  Neue Ideen im Minutentakt, in: Nordkurier und Neubrandenburger Zeitung (Stargard), Ausgabe vom 16. März 2020, Seite 14; dort hieß es: „Im Gutshaus Linstow summt es wie im Bienenstock. 13 Paare, allesamt Gutshaus-Besitzer, löchern sich gegenseitig mit Fragen: Wie viele Betten hast Du? Machst Du Kulturveranstaltungen? Hast Du ein Restaurant in Deiner Nähe? Philipp Kasezy vom Gutshaus Kobrow nahe Teterow bietet Ferienzimmer an, die Leute mögen seinen Shabby-Charme, sagt er. Doch wenn es ums Essen geht, müsse er passen.  ‚Die Gäste kommen zu mir, um Landurlaub zu machen und ich schicke sie zum Essen wieder zurück in die Stadt, weil sie hier nichts finden können. So sollte es doch nicht bleiben.‘ Kasezy findet an diesem Vormittag viele Leidensgenossen und es zeigt sich: Gutshaus-Urlaub ist in, aber nun muss die Infrastruktur, das Angebot drum herum nachziehen, damit das Konzept von der Auszeit auf dem Land aufgeht. Gemeinsame Schwachstellen und Potenziale zu erörtern, ist Teil des Regiopolgarten-Projekts Stadt-Land-Gut. Mit diesem Projekt will der Verein Schlösser, Guts- und Herrenhäuser die Strahlkraft der Gutshäuser im Hinterland stärken. Insgesamt 40 Gutshaus-Besitzer und - Betreiber haben sich zu einem Netzwerk zusammengeschlossen. Sie zählen sich zum Großraum Rostock, der nach dieser Rechnung weit in die Mecklenburgische Seenplatte hineinreicht. Sie wollen ihre Angebote gemeinsam vermarkten und perspektivisch als Außenstellen der geplanten BU[ndes]GA[rtenschau] in Rostock 2025 etablieren. Aus der Seenplatte sind Häuser vertreten wie Lexow, Ludorf, Kummerow, Wolkwitz, Gülz und die Wasserburg Liepen bei Gielow. Neben Eigenmitteln, die von den Hausbesitzern und Stiftungen zusammengetragen wurden, wird das Projekt vom Regionalverband Rostock gefördert.“ – Der in dem Artikel erwähnte Kasezy heißt indes tatsächlich Philipp Kaszay; siehe dazu Silke Voss: Romantische Räume  im Kerzenschein und brutale Baukatastrophen, in: Nordkurier und Vorpommernkurier vom 8. Dezember 2023, Seite 20: „‘Bruchbude‘ nennt Gutshausbesitzer Philipp Kaszay aus Kobrow denn auch ironisch seinen mehrere hundert Quadratmeter großen und mehrstöckigen ‚Kasten‘ [...] Doch mittlerweile rennen die Feriengäste der ‚postsozialistischen Gutshausbaustelle‘ , wie die Gutshausretter das Projekt getauft haben, die ‚Bruchbude‘ ein.“
  • [11] = Luc Boltanski / Arnaud Esquerre: Bereicherung. Eine Kritik der Ware, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2018, Seite 130.


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