Institut Deutsche Adelsforschung
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Adelige Gruppenbildung im Spätmittelalter

Einungen, Ratsangehörige, Lehnsnehmende und Militärunternehmende

Die Gruppe des Adels wurde aufgrund ihrer langen Traditionspflege oft genug in der Vergangenheit als ein feststehender sozialer Verband wahrgenommen, der sich zwar durch die aufeinander folgenden Generationen hindurch personell und biologisch erneuerte, allerdings sonst im Personalbestand gleich geblieben sei. Insofern konnte diese Gruppierung auch recht statisch beschrieben werden. So vermerkte Pierer (1857): "Adel (vom althochdeutschen adal, d.i. ausgezeichnet, od. Geschlecht, Familie, während das franz. Noblesse, engl. Nobility, vom lat. nobilitas kommt u. den Stand dessen bezeichnet, der einen Namen hat, von einer lange bestehenden Familie ist), nach der früheren Dreitheilung der Stände eines Staates der erste derselben, dessen Glieder sich durch größeren Grundbesitz u. Alter ihrer Familie auszeichneten. 

I. Begriff des A-s. Die bloße Auszeichnung vor der großen Menge durch Reichthum, Kenntnisse, Ruhm u. Ehre begründet nicht den Begriff des A-s; die größten Dichter, Weltweisen, Gelehrten, Künstler, die reichsten Banquiers od. größten Grundbesitzer in der amerikanischen Union sind deshalb nicht adelig; A. ist der erbliche Besitz u. Genuß von Rechten einer Anzahl von Familien od. Geschlechter eines Volkes, während alle Übrigen entweder ganz davon ausgeschlossen sind, od. doch nur auf irgend eine andere Weise als durch Geburt dazu gelangen können. Der Erwerbung der A-srechte durch Geburt wird diejenige durch Verdienst od. durch Kauf od. durch Gunst u. Gnade entgegengesetzt, welche überall die höchste Staatsgewalt vermittelt. Die Rechte können entweder nutzbare, od. politische, od. Ehrenrechte sein.“ [1]

Allerdings gab es bereits im 19. Jahrhundert gegensätzliche Definitionen und feine Abgrenzungen zwischen Adel und Nichtadel, denn Pierer (1857) betonte weiter treffend: „Der vollständige A. besteht nicht blos in einem A-stitel, sondern hauptsächlich im Besitze u. Genusse von A-srechten. Bürgerliche, denen wegen ihres Verdienstes die höchsten Stellen in der Staatsverwaltung anvertraut worden sind, haben oft A-srechte gehabt, ohne den A-stitel zu haben; umgekehrt gibt es in den europäischen Staaten Viele, welche durch Geburt den A-stitel haben, während ihnen Besitz u. Genuß von A-srechten fehlen. Die Ersteren werden überhaupt nicht zum A. gerechnet, so lange die höchste Staatsgewalt ihnen nicht den A-stitel verleiht, u. die Letzteren gelten z.B. in England nicht als adelig, so lange sie nicht im Besitze u. Genusse von nutzbaren, politischen u. Ehren-A-srechten sind.“ [2]

Damit in Übereinstimmung befand sich auch Latour (2010), der behauptete, daß soziale Gruppen nicht statisch seien, vielmehr permanent umstritten, kontrovers, ungewiß, fragil und definitorisch umkämpft wären. [3] Gruppen als „soziale Aggregate“ mit festen Grenzen aufzufassen, so wie es die herkömmliche Soziologie sehe, sei Latour zufolge nur eine Imagination, mit denen Soziolog*innen die eigentlichen Akteur*innen ihrem Willen unterwerfen würden. Er forderte daraus ableitend weiters, daß man als forschende Person den Akteur*innen erlauben müsse, ihre Konzepte stärker zum Ausdruck zu bringen. Daher dürften Forschungen nicht – wie bisher üblich – mit der Definition einer Gruppe beginnen, sondern sollten lediglich die Kontroversen der Gruppenbildung kartographieren. Anstatt Merkmale von Gruppen zu sammeln, solle man lieber (mithilfe einer Diskursanalyse) eine Lise von Elementen erstellen, mit denen in Kontroversen über Gruppen gesprochen werde. [4]

Es seien nun konkret vier Bereiche, die so zu untersuchen wären, daß Akteur*innen selbst sprechen könnten und nicht zu bloßen Informant*innen für eine Metabetrachtung degradiert würden. Stellt man sich die Frage nach der Zusammensetzung von Gruppenbildungsprozessen, müßte man sich, so Latour weiter folgende vier Fragen stellen: 1. Wer sind die Gruppensprechenden und was sagen sie? 2. Welche Gegengruppen (Antigruppen) werden von den Gruppensprechenden benannt und wie wurden sie beschrieben? 3. Wie markieren, definieren und rechtfertigen Akteure*innen ihre Gruppengrenzen? 4. Welche Gruppenmerkmale definieren externe Forschende, die nicht der Menge der eigentlichen Akteur*innen angehören, gleichwohl aber auch – durch Diskurse – an der Gruppenbildung teilnähmen? [5]

Diesen de/konstruktiven Grundsetzungen widmen sich nun zwei neue Dissertationen, die sich der adeligen Gruppenbildung im Spätmittelalter zuwenden. [6] Michael Bühler hat sich dabei mit Adeligen in der badischen Ortenau im 13. bis 16. Jahrhundert, Tobias Pietsch mit dem Adel im Mecklenburg des 13. bis 15. Jahrhunderts [7] befaßt. Beide agieren daher zumindest zeitlich in nahezu gemeinsamen Zeiträumen, betrachten die Gruppenbildungen, die sich als Einungen, Räte, Militärunternehmer und Vasall*innen (Lehnsnehmende) beschreiben lassen. Dabei zeigen beide Verfassende eindringlich die Strategien, die die Akteur*innen selbst entfalteten, um eine Gruppenbildung zu erzeugen – und nach Möglichkeit zu verstetigen. Die Ortenauer schlossen sich zu Einungen zusammen, die Mecklenburger zu Gruppierungen von Lehns- oder hoheitlichen und Amtsträgern. 

Bühler widmet sich dabei Verhaltensweisen und Handlungsmustern, die bei vielen Personen und Familien zugleich auftraten und daher als kollektive Agency-Potentiale bezeichnet werden können. Dazu zählten nicht nur die Bestrebungen, über gruppeninterne Verträge gegenseitige Verpflichtungen zu erreichen und Rechte abzusichern (zu verstetigen), sondern auch die Bemühungen um Ämter, Dienste, Heiratsverhalten, im Engagement im religiösen Stiftungswesen, nicht zuletzt auch wirtschaftliche Anpassungsleistungen, die allesamt dazu beitrugen, die Gruppenbildung des ortenauischen Niederadels zu formieren – und zu perpetuieren.

Bühler beachtet in seiner Forschung darüber hinaus aber auch raumspezifische Fragen, so die Verschiebung der anfänglich nur ländlichen Aufenthaltsorte der Gruppenbildung (auf Burgen) im Wandel der Untersuchungszeit in die Stadt. Auch die enge Bindung an Fürsten durch das Vasallentum wird analysiert, wurde von den Akteur*innen vielfach im Versuch der Erzeugung einer „sozialen Trägheit“ der Gruppe angestrebt. Mit seinen detaillierten Forschungen hat Bühler daher einen wichtigen Beitrag zur adeligen Gruppenbildung geleistet, zumal er besonders die Wichtigkeit der Form der Einung gegenüber der Form der Adelsgesellschaft hervorgehoben hat (Seite 134-136), die bisher in der Forschung diskursbeherrschend gewesen ist. 

Insgesamt arbeitet Bühler mit einer kombinierten Methodik aus kommunkationsgeschichtlichem und Netzwerkansatz sowie in komparatistischer Manier (die Ergebnisse werden mit denen des Adels im Kraichgau und in der Pfalz verglichen) heraus, daß es die drei Ziele „Existenz, Freiheit und Rang“ waren, die den ortenauischen Niederadel zu Handlungen motivierten. Hier und dort gelegentlich, z.B. bei der Schilderung der Aktivitäten von sozialem Aufstieg, fehlt der Arbeit jedoch ein konsequent konstruktiver Ansatz, der die fortwährende adelige Gruppenbildung auch durch Anerkennung und Aberkennung nichtadeliger Umwelten thematisieren würde; ein detailliertes „un/doing nobility“ stand daher leider nicht in Bühlers Fokus, obschon ähnliche Fragen bereits früher Gegenstand der Adelsforschung gewesen sind. [8]

Eine ähnliche „Nabelschau“ auf die Gruppe selbst, nicht aber auf ihre Gegner und Umgebungen, liefert auch Pietsch. Beeindruckend ist jedoch, daß er zur Frage adeliger Gruppenbildung 14.000 mecklenburgische Urkunden ausgewertet hat, mithin eine breite Quellenbasis herangezogen hat, um Fragen der Formierung der ersten Gruppenbildung der spätmittelalterlichen Gentilhommerie zwischen Elbe und Peene zu erörtern (Seite 28-39). Originell ist auch die Darstellung der Entwicklung sozialen Auf- und Abstieges sowie die Einteilung in führende, nachrangige und mindermächtige Adelsfamilien, ermittelt an den Indikatoren der Zugehörigkeit zu den Gruppierungen der landesherrlichen Räte, Kriegsunternehmenden, Lehnsnehmenden und Vogteibesitzenden. 

Pietsch geht damit nicht von einem homogenen Adelsbegriff mit einheitlichem Gruppenbild aus, sondern folgt, obschon er, ebenso wie Bühler, ausweislich seines Literaturverzeichnisses keinen Bezug auf Latours Plädoyer nimmt, den Prämissen der Forderung, nicht Gruppen, sondern Gruppenbildungsprozesse zu verfolgen, die „Akteure selbst reden zu lassen“. Da Pietsch zudem stark genealogisch interessiert ist und gearbeitet hat, ist seine Dissertation nicht zuletzt auch ein wertvoller Beitrag für familienkundlich Interessierte, [9] in erster Linie aber anschaulich für die heterogenen Prozesse der Herausbildung und Immerwiederneubildung gentilhommesker Strukturen im mecklenburgischen Zeithorizont unmittelbar vor Eintritt der Frühen Neuzeit.

Diese Rezension stammt von Dr. phil. Claus Heinrich Bill, M.A., M.A., B.A., und erscheint ebenso gedruckt in der Zeitschrift für deutsche Adelsforschung.

Annotationen: 

  • [1] = Pierers Universal-Lexikon, Band 1. Altenburg 1857, Seite 116 (Lemma „Adel“).
  • [2] = Ibidem, Seite 116.
  • [3] = Bruno Latour: Eine neue Soziologie der Gesellschaft – Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt am Main 2010, Seite 51.
  • [4] = Ibidem, Seite 56.
  • [5] = Ibidem, Seite 57-62.
  • [6] = Dies sind 1) Tobias Pietsch: Führende Gruppierungen im spätmittelalterliche Niederadel Mecklenburgs, hardcovergebundene Fadenheftung, erschienen im Solivagus-Verlag zu Kiel, 460 Seiten,  Format: 148 x 210 mm, enthält zahlreiche Diagramme, Stammtafeln und Tabellen, ISBN: 978-3-943025-51-4, Preis: 58,00 Euro, und 2) Michael Bühler: Existenz, Freiheit und Rang – Handlungsmuster des Ortenauer Niederadels am Ende des Mittelalters (Band 222 der Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe B: Forschungen), erschienen im Verlag W. Kohlhammer zu Stuttgart 2019, ISBN: 978-3-17-035360-2, XXVI und 344 Seiten, Maße:  235 mm x 160 mm x 28 mm, Preis: 32,00 Euro.
  • [7] = Es handelt sich um eine am Historischen Seminar der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel 2017 abgeschlossene Doktorarbeit unter Betreuung des (vorwiegend schleswig-holsteinischen) Landeshistorikers Prof. Dr. Oliver Auge.
  • [8] = Kurt Andermann / Peter Johanek, (Hg.): Zwischen Nicht-Adel und Adel, Stuttgart 2001, 456 Seiten.
  • [9] = Gleichwohl ist bei Pietsch, anders als bei Bühler (Seite 337-344), ein Namens- und Personenverzeichnis nicht enthalten.
 

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