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Adeliger Lebensstil und ständische LageTraditionslinien des Konzeptes adeliger MentalitätskerneIm Jahre 1911 erschien in einer Wiener Zeitung eine Rezension zu einem Benimmratgeber, in dem ein Autor namens „Hans Joachim von Krampen“ Ratschläge für diejenigen Leser*innen austeilte, die Vornehmheit zu erlernen wünschten und an einer bürgerlichen Aufstiegsideologie Interesse hatten. [1] Hierin notierte der Rezensent Dr. Erwin Rex: "Was ist vornehm? – Die einen sagen: Luxus und Glanz, imponierende Erscheinung, vollendete Sicherheit; die anderen: Einfachheit, Schlichtheit und Zurückhaltung. Beide haben recht und beide unrecht. Vornehme Formen, die nicht der Ausfluß des Empfindens sind, gleichen dem wertlosen Kiesel, dessen verlogener Glanz den Kenner nicht täuscht; Lauterkeit des Herzens ohne tadellose Formen dem ungeschliffenen Edelstein, an dem wir achtlos vorübergehen. Aber seht dort auf dunklem Samt, schlicht und doch von unvergänglichem Werte, den Wasserklaren, hundertfach geschliffenen Diamanten, in dem das Licht sich freudig bricht. Dieser Stein ist echt und schön, ist – wahrhaft vornehm! Doch schon steigt eine zweite Frage vor uns auf: Wie werden wir solch vornehme Menschen? – Nicht leicht ist der Aufstieg zu wahrer Vornehmheit; muß doch ein jeder aus eigener Kraft, mit eigener Gefahr über Stein und Klippen klimmen, hinauf bis zum ersehnten Ziel!" [2] Das Streben nach Vornehmheit war, schenkt man diesem Ratgeber Glauben, ein allgemeines Streben des Menschen. Für die starke Beliebtheit solcher Bücher spricht nicht zuletzt, daß sie in der Literaturwissenschaft einem eigenen Genre zugewiesen werden und daher über eine gewisse überzeitliche Kontinuität verfügten, für breite Massen aber erst seit der Aufklärung verfügbar waren. [3] Dieses allgemeine Streben des Menschen hat auch der 1941 geborene österreichische Kulturwissenschaftler Roland Girtler – er lehrte bis zu seinem Ruhestand Soziologie an der Universität Wien – als eine anthropologische Grundkonstante ausgemacht. Er spricht in seinem Werk „Feine Leute“ (2016) daher auch vom Menschen allgemein als einem „Animal abitiosum“, einem ehrsuchenden und Beifall erheischenden Lebewesen, dessen Streben weit über den notwendigen Wunsch nach bloßer Anerkennung seiner Mitmenschen hinausgehe. [4] Das eingangs erwähnte Zitat aus dem Benimmratgeber scheint diese Theorie zu stützen. Es sollte Menschen Vornehmheit ermöglichen, die darüber nicht als Geburtsbeigabe verfügten, die nicht wie Adelige in Vornehmheit sozialisiert worden sind. Dennoch war das Unterfangen schwierig. Denn Vornehmheit von Jugend an durch Imitation vornehmer Erwachsener am Hof einzuüben und zu übernehmen, war ein anderer Aneignungsprozeß als der Versuch, sich diese vornehmen Tugenden durch rationale Erlernung im Erwachsenenalter anzueignen. Was der Adel in der Regel, zumindest seinem Leitbild nach, in der Wiege mitbekommen und auf Kavalierstouren als Bildungsreisen und auf Ritterakademien als Verhaltenskanon erlernt hatte, wollten andere Bevölkerungsschichten erst noch durch eine künstlich in Gang gesetzte Mimesis der äußeren Formen im sozialen Umgang nachholen. Dies alles geschah vor allem zur Formierungszeit der Moderne, einer Sattelzeit, in der die Auflösung und Erosion des Adels als politischer Stand Hand in Hand mit der kulturellen Aufwertung des Adels als aristokratischem Konzept für breitere Bevölkerungsschichten ging. [5] Girtler nun hat für sein Buch, das jüngst als unveränderter Neudruck einer Erstausgabe von 1989 erschienen ist, [6] unterschiedliche Bevölkerungsgruppen mit teilnehmender Beobachtung als Kulturanthropologe auf eben jenen durch die Schichten wandernden Aristokratismus hin untersucht, in den 1980er Jahren in Österreich aber auch viele Interviews mit ehemaligen Adeligen, mit Land- und Stadtstreichern (Sandlern) und mit Kriminellen geführt. Er möchte damit den Nachweis führen, daß das Ehrstreben nicht nur eine typische Adelseigenschaft sei, sondern auch unter den „Edelsandlern“ und „Gaunerbossen“ ablesbar wäre. Tatsächlich bringt Girtler viele Beispiele, in denen sich verwandte Verhaltensweisen der Vornehmheitsdemonstration und -performanz im sozialen Raum beobachten lassen. [7] Für die Adelsforschung sind diese Beobachtungen mittlerweile Zeitzeugnisse einer vergangenen Epoche vom Ende des 20. Jahrhunderts, die wertvolle Auskünfte aus dem „inner circle“ der Erinnerungsgemeinschaft des ehemaligen österreichischen Adels offenbaren. Die darin angesprochenen Lebensbereiche, in denen sich die Vornehmheit äußert, sei es in Artefakten oder dem Verhalten, hat Girtler minutiös notiert. [8] Es sind daher Aussagen über die Mentalitätskerne von Adeligkeit, [9] wie sich sich in der Erinnerungsgemeinschaft des abgeschafften und auch im Namen eliminierten, per Aristokratismus aber kulturell weiterlebenden österreichischen Konzeptes zeigten. Vor allem für die Adelsforschung bietet Girtler damit Einsichten, die ein wenig an Saint Martins Analysen der Erscheinungsformen und Betätigungsfelder der Erinnerungsgemeinschaft des ehedem französischen Adels erinnert, [10] aber zugleich den distanziert-analytischen Ton von Veblen besitzt, der Außenstehende auszeichnet. Dabei spricht Girtler auch über unausgesprochene Vorlieben dieser Gemeinschaft, so über die Verwendung von Maßschuhen als einem Markenzeichen von Vornehmheit oder von ständischer Lage. [11] Sckaukal hat diese Auffassung (1906) zeitgenössisch – für Zeiten, in denen Adel noch in der Monarchie als Stand existierte – unterstützt: „Ueberhaupt die Schuhfrage: `eine Welt´. Der eleganteste Schuh bleibt der Lackschuh. Der Lackschuh als Lackknöpfel-, als Lackschnürstiefel, als Lackhalbschuh verlangt ein besonderes Augenmerk. Ein heller Sommeranzug und ein Lackknopfstiefel ergeben eine Dissonanz. Einer der schönsten `Akkorde´ ist der gelbe Halbschuh oder Schnürstiefel mit dem dunkelblauen Sakkoanzug, ihm gleich kommt der Lackhalbschuh zum blaugrauen lichten Sakkoanzug. Der Gehrock verträgt den Lackhalbschuh kaum. Er ist zu schwer, zu feierlich für dessen Leichtigkeit. Dagegen wird er zum rauhen grauen Jackett `mit Bewußtsein´ getragen. Der Frack schließt ihn – den gebundenen Halbschuh – wiederum aus. Der Frack verlangt den Knöpfelschuh, verhält sich gegenüber dem Schnürstiefel, der immer etwas Straßenmäßiges an sich hat, [12] schon kühler, wird aber den offenen Halbschuh (mit der breiten, gerade geschnittenen Masche) gerne im Kreise dulden: zu einer offiziellen Soiree so zu erscheinen, wäre unfehlbar taktlos. Der Smoking läßt den gebundenen Halbschuh gelten, ihm steht der offene Lackschuh nicht wohl an. Zum dunklen gestreiften Beinkleid, das einen dunklen Rock fordert, gehört unfehlbar der Lackstiefel. Kaum wird ihn ein ungewichster weicher Kalbleder- (Chevreau-) Schnürstiefel vollwertig ersetzen.“ [13] Dies alles waren für den ehemaligen Adel selbstverständliche Begebenheiten, die er schon früh internalisiert hatte, um als Adel auf dem sozialen Parkett zu glänzen, um sich „sichtbar“ zu machen. Die hier gegebenen Anleitungen und Einblicke Schaukals dagegen können als Nachhilfe verstanden werden für diejenigen, die sich Vornehmheit erst nachträglich aneignen wollten. Girtler spricht dieses Streben nach Vornehmheit auch als „Wunschziel des Bürgers“ an. Da Girtler sehr viele Lebensbereiche in seinem Werk behandelt, in denen Adel und Vornehmheit erscheinen konnten, besitzt sein Buch den Rang eines fein ausschlagenden Seismographen teilgesellschaftlicher Erscheinungsbilder, die nicht zuletzt für die Analyse der Fragen um das kulturelle Obenbleiben des Adels auch in nachmonarchischen Zeiten von Bedeutung sind. Insofern kann Girtlers Beitrag, auch wenn er schon älter ist und noch aus dem letzten Jahrhundert stammt, dennoch ein wertvoller Beitrag sein zur Frage, auf welche Weise Adeligkeit im Sinne eines Aristokratismuskonzeptes bis in die Jetztzeit weitergeben worden ist. Weil dieses Ehrstreben in allen Schichten beobachtet werden könne, stellt Girtler zuletzt in abschließenden Überlegungen den soziologischen Begriff der „Schicht“ in Frage (Seite 441) und wendet sich auch gegen Bourdieu, der von „feinen Unterschieden“ im Geschmack verschiedener Schichten gesprochen hatte. [14] Dabei übersieht Girtler aber, daß es bestimmte Strategien gegeben hat, sich in seiner je eigenen sozialen Position von anderen sozialen Positionen zu unterscheiden. [15] Denn es ist nachvollziehbar, daß das Ehrstreben als menschliche Eigenschaft im sozialen Raum vorhanden war. Daß es eben aber doch auch „feine Unterschiede“ gab, läßt sich schwer leugnen. Sie werden nicht zuletzt darin offensichtlich, daß ererbtes und sozialisiertes Wissen um Verhaltenscodices die Bewegungen des adeligen Körpers anders formten als die nachträgliche Aneignung über Benimmbücher oder Schaukals Ratschläge. Die diese Ratschläge befolgenden nichtadeligen Personen mochten bis 1918 äußerlich wie Adelige erscheinen, ihre Performanz aber unterschied sich in Nuancen von der des Adels, da ihr gewisse Feinheiten fehlten. Denn Vornehmheit allein wurde nicht durch Äußerliches hergestellt und eben darin bestanden die „feinen Unterschiede“, die man allein an der Existenz artefaktischer Symbole nicht ablesen kann. Entscheidend für die „feine“ Lebensart war zwischen Früher Neuzeit und Belle Epoque der entsprechende „feine“ Umgang mit den Artefakten auf eine ganz bestimmte Weise, war das körpersemiotisch vollendete Ideal des „Honnête homme“. [16] Vornehme Dinge besitzen konnte jeder, sie distinguierend handhaben nicht. Darin bestanden eben doch „feine“ Unterschiede. Diese Rezension stammt von Claus Heinrich Bill M.A. B.A. und erscheint ebenso gedruckt in der Zeitschrift für deutsche Adelsforschung. Annotationen:
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