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Zum Zusammenwirken von Gewalterfahrung und ProphetieBesprechung zu einem Sammelband zweier kultureller PraktikenIm Jahre 1851 schrieb ein deutscher Jesuitenpriester ein ihm bemerkenswertes Ereignis für die Öffentlichkeit nieder, das sein ganzes Unverständnis für einen scheinbar merkwürdigen Fall der Verbindung von Gewalt und Prophetie offenbarte: „Im Jahre 1843 bildete sich in der Provinz Oberhessen eine Sekte von Bibellesern, welche den Glauben hatten, daß im Jahre 1847, 1848 und 1849 alle Gottlosen, d.h. alle diejenigen, welche nicht zu ihrer Sekte gehörten, untergehen werden. Diesen Weltuntergang erklärten sie aus den fünf glatten Steinen, welche David nahm, als er dem Riesen Goliath entgegen ging. Ein jeder Stein, sagten sie, bedeute 1000 Jahre. Demnach habe die Welt bereits 4996 Jahr gestanden, und müsse nach vierthalb Jahren, mit Ausnahme ihrer Sekte, untergehen. Selbst in den härtesten Wintermonaten ertheilten diese Sektirer bei Nebel und Nacht ihren Novizen in dem Lahnflusse die Wiedertaufe. Die Frau des Ortsbürgers H. in W., Mutter von vier unmündigen Kindern, welche sich vom Bürger M. in diese Schwärmergesellschaft hatte verlocken lassen, hieb sich am Johannistage des Jahres 1846 die rechte Hand absichtlich ab, aus Mißverständniß des Textes: »Wenn dich deine Hand ärgert, so haue sie ab.« (Markus Kapitel 9, Vers 42). Als mehrere Einwohner des Ortes dem genannten M. bittere Vorwürfe deßhalb machten, und ihn als den Urheber dieses schrecklichen Ereignisses bezeichneten; so rief er auf der Straße aus: »Das sind die Wunder des Heilandes; ihr werdet bald solche noch mehr sehen!«“ [1] Was in dem vorerwähnten westdeutschen Exempel aus der Zeit der aufkommenden Industrialisierung in Hessen aufscheint, ist zunächst das Auftreten von Prophetie, dann das Erscheinen von Gewalt im Zuge und im Verfolg dieser Voraussage. [2] Die Frage ist also, ob möglicherweise ein wie auch immer gearteter Zusammenhang zwischen Prophetie und Gewalt besteht und, wenn dies der Fall ist, welcher Art dieser Zusammenhang sein könnte. Christoph Marx und Peter Burschel, ihres Zeichens Kulturanthropologen aus dem Breisgau, haben versucht, diese Frage mit einigen anderen Wissenschaftlern auf einer 2010 abgehalten wissenschaftlichen Tagung mit Forschungsvorträgen zu beantworten, deren schriftlicher Niederschlag nun, drei Jahre später, im Kölner Böhlauverlag (www.boehlau-verlag.com) als gebundenes Werk mit farbigem Schutzumschlag, 520 Seiten und fünf Schwarzweißabbildungen umfassend, für 59 Euro erwerbbar und als Band XIII. der Schriftenreihe Veröffentlichungen des Instituts für Historische Anthropologie (www.historische-anthropologie.de), veröffentlicht worden ist. Gleichwohl scheuen sich die beiden Herausgebenden des Sammelbandes, in dem insgesamt 17 Aufsätze enthalten sind, eine allgemeine Theorie der Kontextualität von Gewalt und Prophetie aufzustellen. Das mag damit zusammenhängen, daß Prophetie nicht grundsätzlich mit Gewalterfahrung einhergehen muß. Wie die astrologische Sintflutschriftenmode des frühen XVI. Jahrhunderts zeigt, konnten auch nur bloße esoterische Spekulationen über bestimmte Planetenkonstellationen oder Lichterscheinungen am Himmel über Wien dystopische Prophetien auslösen. [3] Nur sehr vorsichtig wagen Burschel und Marx daher folgende Thesen in ihrem einleitenden Vorwort (Seite 9-19), das sich als Klammer für die vereinzelt stehenden Beiträge aus unterschiedlichen Räumen wie Zeiten (und damit unterschiedlichen Kulturen) versteht. Demnach bestünde immer dann eine Chance für das Fürwahrhalten von Prophetien, wenn es kollektive Gewalterfahrungen einer Gemeinschaft gegeben habe, denen kein Sinnmuster beigelegt werden konnte (Seite 16) und dieses Sinnmuster sei dann durch Prophetie wieder hergestellt worden, im weitesten Sinne daher in eine Einreihung der Gewaltereignisse in einen, zumeist von überirdischen Instanzen (Schicksal oder Gottheiten) verursachten größerem Weltenplan. Dies trifft auch auf das oberhessische Beispiel zu: Durch die Prophetie wird die selbstverstümmelnde Gewalthandlung kollektiv gerechtfertigt, die durch die Verstümmelung entstandene kognitive Dissonanz, auf die die Außenwelt aufmerksam machte, reduziert, Sinn restauriert. [4] Diese Deutung geht davon aus, daß der Mensch in seinem Handeln, sei es individuell oder sozial, stets einen Sinn zu suchen bereit ist, ja, einen Sinn erleben will.5 Das bedeutet zugleich, daß jedes Ereignis, welches das Individuum betrifft oder ein Kollektiv, kognitiv mit einem Sinn hinterlegt werden will. Dieser Sinn kann intentional oder motivational vorhanden sein und den Akteuren eine Energie geben, um eine bestimmte Handlung auszuführen. Derlei Handlungen sind gelenkt durch das autopoietische Wollen der
Akteure, durch einen vorher ins Handeln gelegten Sinn. Wo aber andere Akteure
als man selbst handeln, so besteht die Gefahr, daß man deren
Handeln als vollendete Tatsache empfindet, möglicherweise auch erleidet.
Es kommt dann zu einer individuellen oder sozialen Krise, die als erstes
den bisherigen Sinn in Frage stellt beziehungsweise oft genug den Eindruck
von Sinnlosigkeit hervorruft. Diese Sinnlosigkeit, so zumindest die anthropologische
Forschung, kann der Mensch schlecht aushalten, will sie beseitigen, um
Sinn in einer chaotisch gewordenen und damit tendenziell ungeordneten)
Welt wieder herzustellen (Seite 17), oft unter Zuhilfenahme transzendenter
Institutionen und Glaubensannahmen. So besehen könnte auch von einer
Sinn-Teleologie menschlichen Daseins gesprochen werden.
Prophetien können daher auch als erfolgversprechende Bewältigungsstrategien bei Stressoren angesehen werden, die den zweifachen Vorteil haben, eine Streßreduktion sowohl problem- als auch emotionskonzentriert anbieten zu können: Infolge des problemorientierten Bewältigungsansatzes wird über eine Voraussage die durch Gewalt entstandene Beziehung zwischen Stressor und Gestreßten durch eine Neubewertung der Beziehung zwischen Beiden transformiert und infolge des emotionsorientierten Ansatzes kann damit zugleich, ohne den Stressor als Ding an sich beeinflussen zu können, eine anfängliche Phantasie zu einer Gewißheit werden, die zu einem besseren Allgemeinbefinden führt. Anhänger von Propheten folgen damit Immanuel Kants Auffassung des Prinzips, daß sich die Erkenntnis nicht nach den Gegenständen richtet, sondern die Gegenstände nach der Erkenntnis.8 Der Stressor oder die Gegenstände (hier die Gewalt) kann dabei als erlitten nicht verändert werden, nur die eigene Einstellung dazu, die Art der Inbeziehungsetzung kann transofrmiert werden. Diese Restauration zerstörten Sinns gehe dabei häufig, wenn Gewalt Auslöser für eine derartige Krise war, mit der Folge der Prophetie einher, also der Weissagung von Ereignissen über die Zukunft, so Burschel und Marx. Das mag zunächst erstaunlich sein, da die Krise ja stets zunächst einmal ganz unmittelbar die Gegenwart betrifft und daher in erster Linie eine Strategie benötigen würde, die den Sinn der Gegenwart und nicht den Sinn der Zukunft wieder herstellen sollte (so auch Schmieder in ihrem Beitrag über Mittelalterliche Prophetie als Sprache politischen Krisenmanagements auf den Seiten 416-417). Gleichwohl gilt: Mit der Sinnreparatur in der Gegenwart scheint es oft genug nicht getan zu sein: Gewalterfahrungen, seien sie nun psychischer oder physischer Art, scheinen das Potential zu haben, aus der vergangenen Erfahrung nicht nur eine gegenwärtige, sondern auch eine zukünftige Sinnsicherheit zu generieren. Erklärlich mag dies durch den Umstand sein, daß die Krise, die die Vergangenheitsgewalt ausgelöst hat, in der Gegenwart anhält und daher nur durch eine Zukunft mit wieder erlangtem Sinnstiftungsmuster egalisiert werden kann. [9] Vermutlich aus diesem Grunde haben Prophetien, vor allem solche religiöser Art, einen großen Widerhall gefunden, wenn es Gewalterfahrungen einer Gesellschaft gegeben hat. Das oben genannte Beispiel der hessischen Sektierer läßt sich indes beliebig exemplarisch vermehren und deduktiv betrachten, aber auch solche Gewalterfahrungen wie die des Atomunfalls von Fukushima im März 2011 brachten ebenso religiöse Prophetien hervor. [10] Burschel und Marx nun gehen diesen Zusammenhängen von Prophetien und Gewalt zaghaft nach, wobei die einzelnen Beiträge, die sich hauptsächlich auf den außereuropäischen Raum beziehen, nicht miteinander in Verbindung stehen. Sie sind aber interkulturell insofern angelegt, als sie Beispiele aus Amerika, Afrika und Europa, aus Mittelalter und Neuzeit, aus Anthropologie und Zoologie an einem Ort vereinen. Verwiesen sei indes noch auf eine besondere Form der Gewalterfahrung, die Burschel und Marx wenig beachten: Die institutionalisierte Gewalterfahrung, nämlich die der Justiz eines Staates, die mit Prophetie auf Gewalt regiert und zugleich neue Gewalt erschafft. Hier aber wird, und das ist selten, die Reaktion auf Gewalt und die erneute Gewaltanwendung von der die Prozesse akteurhaft tragenden Gemeinschaft positiv beurteilt, während das ansonsten nicht der Fall ist. Die Gewalterfahrung beginnt hier stets mit dem irregulären und unerwünschten Verhalten eines Individuums einer Gesellschaft, die sich bestimmte Regeln geben hat. Diese Regeln sind stets prophetischer Art: Sie geben der Gesellschaft durch die Legislative im Namen der Gesellschaft eine Prophetie. Diese Prophetie besteht aus dem Versprechen, eine konforme Handlung der Staatsbürger nicht zu belohnen, aber auch nicht zu ahnden, einen Verstoß aber ganz sicher durch Gewalt zu ahnden. Wenn nun also ein Individuum die Gesetze oder Gepflogenheiten der Gesellschaft verletzt - dies kann als gewalttätiger Akt verstanden werden, auch wenn keine physische Gewalthandlung vorliegt - dann kann sich das Individuum der Prophetie gewiß sein, daß es bestraft wird. Tatsächlich folgt dann in den misten Fällen Justitia der Gewalterfahrung durch die Verhängung von Sanktionen, die ihrerseits wieder Gewalt produziert, beispielsweise die Einschränkung der Bewegungsfreiheit durch eine Gefängnisstrafe oder die Einschränkung der Ehre durch einen Adelsverlust als entehrende Strafe. Unterscheiden muß man hier jedoch die Akteure. Zunächst ist meist das Individuum diejenige Institution, die mit Gewalt die Normen der Gesellschaft tangiert, später ist es im Sinne einer ausgleichenden Reziprozität des Bösen, die Gesellschaft, die durch ihre Organe, die Exekutive, Sinn wieder herstellt und Gewalt anwendet. Dieses Aufscheinen von akzeptierter und nicht akzeptierter Gewalt wirft zudem die Frage nach der Qualität und Bewertung der jeweiligen Gewaltmaßnehmen auf, die durchaus nicht immer eindeutig festzustellen sind. So wollte die Deutsche Adelsgenossenschaft als Standesvertretung des deutschen Adels die Namen der adeligen Attentäter des 20. Juli 1944 aus ihrem kommunikativen und am besten auch gleich aus dem kollektiven und kulturellen Gedächtnis für immer löschen, [11] bevor der deutsche Adel späterhin nach dem Paradigmenwechsel der Stunde Null dieselben Namen nun als Bannerschild der Aufrichtigkeit vor sich her zu tragen verstand. [12] Abgesehen davon ist die Ordnungsstruktur der chronologischen Verortung a) von vorangegangener Gewalterfahrung und nachfolgender Prophetie nicht immer gegeben. Denn es kann auch vorkommen, daß b) eine Gewalterfahrung zeitgleich mit einer Prophetie einhergeht oder sogar auch c) die Prophetie der Gewalterfahrung vorausgeht. Als Exempel für das letztgenannte Verhältnis können die Voraussagen Georg Bushs und Saddam Husseins unmittelbar vor Beginn des 3.Golfkrieges im März des Jahres 2003 angeführt werden. Beide Staatsführer, die des Irak und der Verienigten Staaten, reklamierten dabei als Symbolfiguren und Oberbefehlshaber ihrer Truppen vor den Kampfhandlungen (Bush schon während der Kampfhandlungen) eine religiöse Prophetie, indem sie ihre jeweiligen Gottheiten als Legitimation für ihr gewalttätiges Handeln anführten. Bush und Hussein prophezeiten, jeder von ihnen sei sicher, mithilfe des Christengottes einerseits und Allahs andererseits als Sieger vom Schlachtfeld zu gehen und jeder bekämpfe das Böse in Gestalt des Anderen, während man selbst das Gute verkörpere und den jeweils anderen Aggressor in ihre Schranken weisen müsse. [13] Der Band von Burschel und Marx ist insgesamt besehen empfehlenswert, zumal er, und das ist das Besondere an ihm, eine neue Dimension anthropologischer Forschung und kulturwissenschaftlicher Blickrichtung offenbart und exemplarisch vorstellt. Er verbindet nämlich zwei soziale Phänomene miteinander, um in Form eines wissenschaftlichen Gestaltwechsels eine neue Sichtweise auf Geschehenes zu erreichen. [14] Das mag zunächst nicht mehr sein als eine metaphysisch-historische und bisweilen auch religionsphilosophische Spekulation, kann aber auch aktuellen Bezug gewinnen, wenn man bedenkt, daß Nitschke im letzten Beitrag dieses Sammelbandes über Die Herrschaftsformen der Königin der Blattschneiderameisen konstatiert, daß er aus seinen Beobachtungen von Ameisen- wie von Menschenvölkern zu der Konklusion gelangt, daß Gewalt, auch wenn dies der Erfahrung noch mit Bezug auf Kants Erscheinung so zu erscheint, kein anthropologisches Grundmuster sei, sondern durch die gesellschaftliche Verfassung verursacht werde (Seite 512). Dieser Schlußgedanke ist indes angesichts von allgegenwärtiger Gewalt (wie 2013 in Ägypten und Syrien) selbst eine Prophetie, die bei andauernder Gewalt immerhin die Hoffnung vermittelt, daß Gewalt als soziales Kommunikationsmittel einst eliminierbar sein könnte, zumindest die Gewalt der Menschen in Kriegen untereinander. Die Gewalt der Natur wird dahin gegen nicht eliminierbar sein (Erdbeben, Vulkanausbrüche, Tsunamis, Flutwellen), doch dafür besitzt die Menschheit die Propheten. Die sehr unterschiedlich angelegten Beiträge weiten den Blick positiv auf internationale Zusammenhänge und können daher keineswegs als Scheuklappensicht oder als reduktionistisch oder eurozentrisch beschrieben werden. Sie werfen differenzierte Schlaglichter auf das Phänomen, welches freilich auch wegen dieser großen Differenziertheit nicht über eine gewisse Beliebigkeit hinauskommt. Das hat mit der breiten Anlage des Sammelbandes zu tun, denn Beiträge wie von Harnischfeger über Der Kreuzzug einer Igbo-Prophetin (betreffend Nigeria in den 1990er Jahren) lassen sich eben schlecht mit solchen von Bähr über Petrus Lotichius´ Elegie von der Belagerung Magdeburgs (betreffend Sachsen-Anhalt in den 1630er Jahren) vergleichen oder in Beziehung setzen. Zweifellos aber haben es die Herausgebenden und die Beitragenden verstanden, zunächst einmal, was recht novitär ist, auf die Beziehung zwischen Gewalterfahrung und Prophetie aufmerksam gemacht zu haben und sodann einen ersten Spezialiaüberblick vielfältiger Kontextualitäten in große Quantitäten umspannenden Zeit- und Raumverhältnissen anzureißen. Was für die Zukunft wünschenswert wäre, ist eine hier schon in Skizzen angedachte Systematik dieser bemerkenswerten Beziehung jener beiden sozialen Handlungsmuster, für die der Sammelband erste Grundlagen geschaffen hat. Diese Rezension erschien zuerst in der Zeitschrift Nobilitas für deutsche Adelsforschung (Jahrgang 2013) und wurde verfaßt von Claus Heinrich Bill. Annotationen:
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