Institut Deutsche Adelsforschung
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Allelopoietisch-performative Erneuerung der Befreiungskriege

Rezeptions-Betrachtungen vom XIX. bis XXI. Säkulum

Im Oktober 1942, wenig Wochen nach dem Beginn der Schlacht bei Stalingrad, erschien in einer Lienzer Zeitung eine erinnernde Nachricht an den Todestag eines deutschen Dichters. Sie lautete: „Walter Flexs 25. Todestag. Walter Flex hat schon zu seiner Zeit, also vor dreißig Jahren, eine große Anhängerschaft gehabt, vor allem in der Jugend; heute sind seine Gedanken Allgemeingut geworden. Er hat es — wie einst zur Zeit der Freiheitskriege Körner und Ernst Moritz Arndt — verstanden, die politische Gleichgültigkeit der Massen in einen opferbereiten, begeisterten und begeisternden Patriotismus zu verwandeln und ein volles Deutschbewußtsein zu erwecken. Die Jugend hatte er gewonnen durch sein Buch `Wanderer zwischen zwei Welten´ (1917), das eine Auflage von einer halben Million erzielte. Neben diesem Buch haben andere, wie seine `Kriegsdichtungen´, `Das Volk in Eisen´, `Vom großen Abendmahl´, `Ein Traum vom Tode´, ihren Eindruck auf die Jugend nicht verfehlt. Walter Flex ist in Eisenach am 6. Juli 1887 geboren und ist dreißigjährig in den Kämpfen um die Insel Asel am 16. Oktober 1917 geblieben. Seinen vollen Wert als Dichter ersehen wir aus seinen lyrischen Gedichten, aus seinen Novellen, am besten aber aus seinen Dramen. Er hatte schon als Primaner das Drama `Die Bauernführer´ geschrieben, und er behandelt darin das Schicksal von Thomas Münzer.“ [1]

In dieser Zeitungsmeldung wurde die Vergangenheit doppelt aktiviert, einmal ontoformativ, dann aber auch allelopoietisch. Flex war ein Mann wie viele andere junge Männer gewesen, als er 1917 fiel. Was ihn, abgesehen von seinem Wert als individueller Mensch, in bestimmten Kontexten des NS-Staates nennens- und erinenrungswert machte, war seine Eigenschaft als Dichter, der für die Situation von 1942 eine anscheinend entscheidende Bedeutung besaß. 

Wer die Vergangenheit nutzt, macht sie vor allem sich selbst dienst- und nutzbar, wird dies nicht immer nur aus einem rein historischen Interesse am bloßen Gegenstand bewerkstelligen. Vielmehr erscheint es so, als wenn die Aktivierung von Vergangenheiten eine Inbeziehungsetzung sind und nicht ohne diese Kontextualisierung zwischen Betrachtenden und Betrachtetem ablaufen können. Allelopoietisch ist die Nutzung außerdem, weil sie beide Entitäten verändert, sowohl die Betrachtenden als auch das Betrachtete. Flex ebenso wie Arndt und Körner, auf die in dem Zeitungsartikel transaktional Bezug genommen wird, erhalten durch die Rezipierung von 1942 einen neuen Kontext, eine neue Teleologie zugeschrieben, ohne daß sie dies hätten beeinflussen können. 

Sie veränderten über die Rezeption die Gegenwart, verliehen ihr traditionale Wurzeln, aber ihr Bild wurde zugleich auch selbst im Bewußtsein der jeweiligen Gegenwart verändert. Weiters waren derlei Aufrufungen oder Anrufungen, wie sie Judith Butler nennt, ontoformativ: Sie erschufen durch Beschreibungen das, was sie beschrieben, in dem Falle des Artikels die Stärkung der Wehrwillens der Bevölkerung und ihrer Bereitschaft, weiter den Krieg zu unterstützen. Somit stünden Vergangenheiten stets in Kontexten. Dies gilt nicht zuletzt auch für Flex, für Arndt und Körner , die hier von den Befreiungskriegen über den ersten Weltkrieg bis zum zweiten Weltkrieg in einer Traditionslinie zu stehen scheinen. Geschichtliche Betrachtungen erscheinen daher als Instrumentalisierung, vor allem zum Zwecke der Erreichung einer Stärkung von gegenwärtigem Kohärenzgefühl von Kollektiven oder Individuen, oder zur Erreichung bestimmter gegenwärtiger Ziele.

Der Stuttgarter Historiker Prof. Dr. Roland Gehrke M.A. hat sich nun mitsamt einiger Kolleg*Innen dieses Phänomens angenommen und suchte speziell für die angesprochenen Befreiungskriege nach Rezeptionsformen aller Art, die sich auf Artefakte wie Denkmäler, Soziofakte wie Gedenkfeiern und  Mentefakte wie den bei Flex, Arndt und Körner angesprochenen Wehrwillen bezogen. Wie die vielfältigen Beiträge, entstanden aus einer Reihe von Vorträgen einer wissenschaftlichen Tagung der Historischen Kommission für Schlesien am 2./3. November 2012 in Pforzheim, feststellen konnten, wurden die Befreiungskriege, namentlich auch die Völkerschlacht bei Leipzig, zu einem deutschen Erinnerungsort mit weitreichender mentefaktischer Strahlkraft auf nachfolgende deutsche Generationen. [2] 

Das zeigt nicht zuletzt auch die Inanspruchnahme der Dichter Arndt und Körner, die in dem Artikel 1942 in eine Traditionslinie mit Flex gestellt wurden. Der von Gehrke herausgegebene Band „Von Breslau nach Leipzig. Wahrnehmung, Erinnerung und Deutung der antinapoleonischen Befreiungskriege“ (Böhlauverlag Köln 2014, gebunden, 270 Seiten, Preis 34,90 Euro) beschäftigt sich in einem dutzend Beiträgen mit Rezeptionen im nationalen, intermedialen, historiographischen und filmischen Kontext, untersucht aber auch einzelne Entitäten wie die Wiederaufnahmen des Freiwilligenmythos, des Wiener Kongresses, der Bedeutung Preußens im „Abwehrkampf“ oder auch der weit verbreiteten und bekannten Breslauer Proklamationen von König Friedrich Wilhelm III. mit den Titeln „An mein Volk!“ und „An mein Kriegsheer!“ von 1813. 

Auch diese beiden Aufrufe wurden später vielfältig rezipiert, nicht zuletzt als Legitimation für die NS-“Volksgemeinschaft“. Ein Anonymus schrieb dazu 1938  anläßlich der 125. Wiederkehr der Unterzeichnung dieser Aufrufe: „Breslau, 13. März. Im Nationaldenkmal der preußischen Erhebung, in der Breslauer Jahrhunderthalle, von deren Kuppel symbolisch hinter dem Hakenkreuz das Eiserne Kreuz in den weiten Raum strahlt, versammelten sich am Sonntag nachmittag auf Einladung der Hauptstadt Breslau gemeinsam mit führenden Männern aus Partei, Staat und Wehrmacht sowie der Reichsuniversität Breslau Tausende von Volksgenossen aus ganz Schlesien [...] Daß die Gedenkfeier, in deren Mittelpunkt neben einer Ansprache des Gauleiters und Oberpräsidenten Staatsrat Josef Wagner eine Rede des Reichs- und Preußischen Ministers des Innern Dr. Frick stand, fast auf den Tag genau mit der Erhebung des österreichischen Brudervolkes zusammenfiel, gab der Veranstaltung ihre besondere Krönung.

Nach dem Fahneneinmarsch der Formationen der Bewegung und der Wehrmacht begrüßte der Breslauer Oberbürgermeister Dr. Fridrich die Teilnehmer an der Feier. Eine Beethovensche Sinfonie leitete zu der Ansprache des Gauleiters und Oberpräsidenten Josef Wagner über, der in ausführlicher Weise das Werk Adolf Hitlers als die Fortführung und Vollendung der preußischen Erhebung vor 125 Jahren würdigte. Von herzlichem Beifall empfangen, nahm dann Reichsminister Dr. Frick das Wort zu einer Ansprache. `Die Märztage 1813 gerade hier in Breslau´, so führte der Minister aus, `sind für das gesamtdeutsche Schicksal geschichtliche Höhepunkte, die es rechtfertigen, ihrer heute nach 125 Jahren würdig und dankbar zu gedenken.

Das alte ruhmreiche Preußen Friedrichs des Großen war unter der mittelmäßigen Führung seiner Nachfolger 'auf seinen verwelkten Lorbeeren sachte eingenickt und hatte sich den Erfordernissen einer neuen Zeit in zähem Festhalten am alten Zopf verschlossen. Die Katastrophe von Jena und Auerstädt zerstörte die Illusion einer glänzenden Fassade, machte aber zugleich auch den Weg frei zur Umkehr, Einkehr und Selbstbesinnung. Durch Steins Reformen wurde der lebendige Gemeinsinn, die Freude am Verantwortlichen politischen Handeln wieder geweckt. Hand in Hand mit Stein arbeitete Scharnhorst an der Erneuerung des Heeres. Seinem organisatorischen Talent verdankt Preußen anstelle des alten Söldnerheeres das Volksheer, das Volk in Waffen, die allgemeine Wehrpflicht. Nach mehr als sechs langen schweren Jahren war die Saat reif, als Napoleon mit den jämmerlichen Trümmern der `Großen Armee´ aus den Eisfeldern Rußlands zurückkehrte. `Jetzt oder nie ist der Moment, Freiheit und Größe wiederzuerlangen´, schrieb Jork an den König, als er um die Jahreswende 1812/13 den Vertrag von Tauroggen geschlossen hatte. Am 17. März erließ der König den Aufruf `An mein Volk´. In den Mauern Breslaus schlug in den Märztagen 1813 das Herz Deutschlands. Was im März 1813 in Breslau begonnen wurde, fand im Oktober seine Erfüllung in der Völkerschlacht bei Leipzig. 

Preußen, Deutschland, ja Europa waren wieder frei. Freilich die Blütenträume der besten Deutschen aus dem Frühjahr 1813 von einem einigen, starken Deutschen Reich blieben auch diesmal unerfüllt. Es liegt nahe, die Geschichte des Freiheitskampfes vor 125 Jahren zu vergleichen mit dem politischen Geschehen unserer Zeit. Wie in den Jahren 1806 und 1807, wurde auch im November 1918 ein ungeheurer, politischer wenn auch nicht militärischer Zusammenbruch des Reiches der Deutschen, in der Hauptsache verschuldet durch Aufspaltung der Volksgemeinschaft in Klassen, Parteien und Interessentenhaufen. Statt sechsjähriger napoleonischer Bedrückung mehr als 14 Jahre Republik von Weimar als willenloses Instrument der Feindbundmächte zur Ausplünderung des deutschen Volkes im Zeichen der sogenannten Erfüllungspolitik des Versailler Diktates. Und schließlich am 30. Januar 1933, wie im März 1813, Durchbruch zur nationalen Erhebung, allerdings auf völlig legalem, friedlichem und gewaltlosem Weg und in der Folge auf dem gleichen Weg innerpolitische Beseitigung des Versailler Diktats. Und gerade die letzten Tage haben uns einen völkischen Aufbruch der deutschen Nation erleben lassen, wie ihn die Geschichte stärker kaum kennt. 

Wir waren gestern und heute Zeugen des Sieges der Erhebung unserer Brüder in der Ostmark des alten Reiches, in Deutsch-Oesterreich. Obwohl die große Mehrheit des deutschen Volkes in Oesterreich mehr als vier Jahre von einem volksfeindlichen System von Verrätern entrechtet, geknechtet und gequält worden ist, hat der Nationalsozialismus in einer völlig legalen disziplinierten Form einer unblutigen und von der Begeisterung des ganzen Volkes getragenen wahrhaft überwältigenden Revolution den längst erreichten geistigen Anschluß Deutsch-Oesterreichs an das Mutterreich auch politisch vollzogen.“ [3]

Auch bei diesem Beispiel wird deutlich, daß die Rezeption von Vergangenem zur Stiftung kollektiver Identität herangezogen wurde und Traditionslinien der Legitimierung von Gegenwärtigem konstruiert wurden. Dabei kann sich grundsätzlich die Vergangenheit nicht gegen ihre Vereinnahmung wehren, je weiter sie zurück liegt (wehren kann sie sich nur durch sie verteidigende Soziofakte lediglich, wenn Urheberrechte beansprucht werden wie im Falle der Werke Berthold Brechts, die derzeit nur in bestimmten genehmigten Bearbeitungen mit Zustimmung der die Urheberrechte besitzenden Akteur*Innen aufgeführt werden dürfen).

Die performativ in der genannten Breslauer Veranstaltung vollzogene Ineinssetzung von Volksheer und NS-“Volksgemeinschaft“, deutlich werdend an der Massenveranstaltung, an den beiden Kreuzsymbolen in der Jahrhunderthalle und an der Bezugnahme auf den „Anschluß“ Österreichs mit einer scheinbaren Erfüllung großdeutscher Visionen sind nur ein Beispiel von vielen Erzählweisen des Verflossenen. 

Auch hier gilt: Wer als homo historicus die Vergangenheit und den Friedhof aufsucht, besucht nur sich selbst, sucht über die transformierende Rezeption eine delectatio reflexiva zu erlangen, möchte das, was ist, mit dem dem Damals vereinigen oder sich von ihm abgrenzen, benützt es als Steinbruch, de- und neokontextualisiert es zu Hybridisierungen, die — zumindest im Bewußtsein der Rezipierenden — scheinbar zeitlos sind. Allerdings unterscheiden sich die Inhalte dessen, was erinnert wird, was Individuen oder Kollektive als erinnerungswürdig empfinden, stark. 

Entscheidend dabei ist die Passung von Vergangenheit und gegenwärtigen Anforderungen. Im Fall der Befreiungskriege bot die Vergangenheit multiperspektivische Bezugspunkte: Auf die NS-“Volksgemeinschaft“, davor noch aber auch auf den nationalen Einigungsgedanken, manchmal auch beides zusammen. Im Falle der Berichterstattung von 1938 fällt außerdem auf, wie teleologisch-chilisastisch gedacht wurde: Der NS-Staat schien die Erfüllung lang gehegter Sehnsüchte zu sein oder beanspruchte zumindest deren Erbe durch unwidersprochene Aneignung.

Das vorliegend besprochene Werk von Gehrke demontiert einige der Mythen, die sich bisher um die Befreiungskriege rank(t)en, er bestätigt aber auch durchaus einige. Zurück bleibt der Eindruck, daß die Rezeption nicht einheitlich war, durch die mittlere Vergehenszeit für viele Rezipierenden offensichtlich besonders anschlußfähig erschien (noch intensiver gilt dies freilich für ur- und frühgeschichtliche Umstände und Zeugnisse, die a conto der oft problematischen Quellenlage einen größeren Spielraum für Spekulationen und Interpretationen boten). 

Die Reproduktion ihrer Bilder — im eigentlichen autopoietischen Sinn der Rezipierenden aber eher eine Produktion von Bilder mit historisierendem Rückbezug — im Kino, in der vormärzlichen Zeitgeschichtsschreibung, in der DDR, im Kaiserreich, in der Weimarer Republik und im NS-Staat werden unter Gehrkes Federführung gekonnt verhandelt, dargestellt, differenziert analysiert. Die Studien in dem Band sensibilisieren konzise und breit gefächert für einen reflektiven Umgang mit den durchwegs mächtigen Erinnerungsbeständen der Befreiungskriege, der auch mit den Dimensionen der Assmann´schen Gedächtnistheorie und der Nora´schen Erinnerungsortkonzeption bei weitem nicht erschöpft ist. Dies stellt der Band eindrucksvoll dar. Als künftiger Leuchtturm in der Rezeptionsforschung der Kriege 1813/15 dürfte der Band daher Grundlagencharakter beanspruchen.

Diese Rezension erscheint ebenso gedruckt in der Zeitschrift für deutsche Adelsforschung und stammt von Claus Heinrich Bill, B.A.

Annotationen: 

  • [1] = Nomen Nescio: Walter Flexs 25. Todestag, in: Lienzer Zeitung (Lienz), Ausgabe Nr. 83 vom 17. Oktober 1942, Seite 4 
  • [2] = Dazu siehe auch Kirstin A. Schäfer: Die Völkerschlacht, in: Etienne François / Hagen Schulze (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte, Band II., München 2001, Seite 187-201
  • [3] = Nomen Nescio: Reichsminister Frick in der Breslauer Jahrhunderthalle, in: Deutsches Nachrichtenbüro (Berlin), Jahrgang V., Zweite Morgen-Ausgabe Nr. 390 vom 14. März 1938, Seite 1

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