Institut Deutsche Adelsforschung
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Ethnologische Neuerscheinungen aktualisierter Standardwerke

Stärken, Unterschiede sowie Gemeinsamkeiten

Ethnologische Fragestellungen werden im Zeitalter einer globalisierten Welt immer wichtiger und können nicht nur als Elfenbeinturmdisziplin Existenz beanspruchen, sondern werden gerade durch die Funktion als Wissenschaft mit einer verbesserten geradezu enzyklischen Hermeneutik aufgewertet. Nicht zuletzt werden heute auch Ethnologen als interkulturell Beratende in politischen und anderen international agierenden Organisationen angestellt; dies unterstreicht die aktuelle Bedeutung der ehemaligen „Völkerkunde“. Doch zugleich gilt, daß ethnologische Fragestellungen heute nicht mehr nur ausschließlich auf diesen völkerkundlichen Bereich ausgerichtet sind, sondern starke kulturwissenschaftliche Inhalte adaptiert haben; sie interessieren sich für die unterschiedlichen Formen sozialer Zeit, für Wirtschaftssysteme, für politische, soziale oder kosmologische Denkstrukturen und Verhaltensmuster. Von jeher deskriptiv und komparatistisch orientiert, ist also die Ethnologie an sich ein geeignetes Instrumentarium zur Analyse interkultureller Begegnungen, aber auch Voraussetzung für das Verstehen „des Anderen“, namentlich auch, weil „das Andere“ und „das „Eigene“ immer mehr zusammenrücken, scheinbar immer öfter aufeinander treffen. Eine entsprechend dieser Bedeutung auch quantitativ zunehmende Anzahl der Publikationen macht daher Sinn. 

Aus diesem Grunde sollen hier drei Novitäten auf dem Buchmarkt besprochen werden. Es handelt sich erstens um das Werk von den Herausgebenden Bettina Beer und Hans Fischer mit dem Titel „Ethnologie. Einführung und Überblick“ (Reimerverlag Berlin 7.Auflage 2013), dann zweitens um den Band von Wolfgang Kaschuba namens „Einführung in die Europäische Ethnologie“ (Beckverlag München 4.Auflage 2012) sowie drittens das Buch von Karl-Heinz Kohl, welches dieser unter der Bezeichnung „Ethnologie. Die Wissenschaft vom kulturell Fremden. Eine Einführung“ (Beckverlag München 3.Auflage 2012) aufgelegt hat. Alle drei Werke sind ältere und bewährte Standardwerke in neuerer Auflage, daher auch aktualisiert und überarbeitet. Sie bieten jeweils einen ersten und generalisierenden Überblick über Themenfelder und Forschungsmethoden, allerdings mit unterschiedlicher Gewichtung. 

Bei Beer ist das Werk in drei Teile gegliedert: Grundbegriffe (Seite 13-100), Arbeitsbereiche (Seite 103-329) und Forschungsansätze (Seite 333-466). Im ersten Teil werden jedoch nur wenige Grundbegriffe erklärt, zentral sind in dem Werk die Vorstellung der Disziplin und ihrer Gegenstände, ihre Geschichte sowie die Feldforschung als die wichtigste Erkenntnismethode. Der zweite Teil dann befaßt sich mit Subdisziplinen, der Wirtschafts-, Sozial-, Religions-, Rechtsethnologie und anderen spezifischen Ethnologien und nimmt auch erst jüngst entstandene neue Bereiche auf, was an den Aufsätzen zur Ethnolinguistik und Kognitionsethnologie deutlich wird. Im dritten Teil kommen schließlich Modellangebote für ethnologisch orientierte Untersuchungsdesigns zur Sprache, die in Theorie und Praxis vorgestellt werden. Für die historisch orientierten Kulturwissenschaften sind hier vor allem die interkulturellen Vergleichsverfahren wichtig (Seite 445-466). Jedoch werden in dem Aufsatz neben einer Geschichte dieser Untersuchungsmethode dann doch „nur“ statistische Methoden dargelegt, kein Werkzeugkasten angeboten, mit dem man konkret anhand von Korrelatbegriffen arbeiten könnte.

Ein weiterer Aufsatz befaßt sich mit interethnischen Beziehungen (Seite 429-444), beispielsweise von Händlern. Bei dieser Personengruppe, so der Beiträger Günther Schlee, war es entscheidend, daß Händler Fremdheit auf ihre Kunden ausstrahlten, wobei aber nur ein bestimmter Grad an Fremdheit geschäftsbefördernd wirkte. Händler mußten genügend fremd sein, um keinen Kredit gewähren zu müssen, aber zugleich vertraut genug, um mit ihnen Geschäfte machen zu können (Seite 443). 

Dieses sogenannte Händlerdilemma ließ sich beispielsweise prototypisch an dem Handels- und Stapelsplatz Singapur im XIX. Centenarium ablesen, in dem vor allem chinesische Händler in einer chinesisch dominierten, im übrigen aber auch aus malaiischen und britischen Minderheiten bestehenden Bevölkerung teilweise längere Zeit lebten, weil der Wintermonsun ihnen die umgehende Heimfahrt nach China unmöglich machte. Dies bewirkte eine in vielfältigen Formen auftretende temporäre und auch dauerhafte chinesische Diaspora in Singapur. Und selbst im XXI. Jahrhundert, fast 200 Jahre nach der Faktoreigründung durch die Briten, stellten die Übersee-Chinesen im Stadtstaat Singapur die Mehrheit der mittlerweile rund fünf Millionen Köpfe starken Bevölkerung. Hierbei ist zu beachten, daß Chinesen (auch wenn sie in Singapur aus verschiedenen Sprach- und Herkunftsgemeinschaften gespeist, eine durchaus sehr heterogene Gruppenstruktur, die „bangs“, bildeten) oft als Mittler des Handels zwischen Europäern und den einheimischen Warenverkäufern aus den Archipelregionen dienten. 

Eine ethnologisch in Beziehung auf dieses Händlerdilemma interessant auszuwertende historische Schilderung dieser Funktion in dem interkontinentalen Warenumschlagplatz Singapur (zeitgenössisch auch Singapura oder Sinkapur genannt) brachte unter anderem die „Allgemeine Handlungs-Zeitung“ aus Nürnberg in der Ära des Vormärzes. Sie schrieb am 29. Mai 1831 in ihrem Stück Nummer 64 auf den Seiten 273-274: 
„Singapura ist eine neuerdings gegründete, sehr blühende Kolonie. Sie liegt auf dem geraden Wege von Bengalen nach China und den zalreichen Inseln des östlichen Archipels. Es ist keinem Zweifel unterworfen, daß sie mit der Zeit der Mittelpunkt des brittischen Handels mit China, Kochinchina, Siam etc., so wie mit der malayischen Halbinsel, und allen östlichen Gegenden Indiens werden wird [womit, so eine Anmerkung des Rezensenten, der Verfasser in prophetischer Weise absolut Recht behielt] ...

Es gab zu Singapura im J. 1829 bei 25 große europäische Handlungshäuser, und eine Menge chinesischer, indischer, arabischer, armenischer, jüdischer und anderer. Der größte Theil des Handels, der Manufakturen und des Akerbaues der Insel befindet sich in den Händen der Chinesen, die beinahe ein Drittel der Gesamtbevölkerung bilden. Auch sind bereits mehrere Schiffswerften errichtet. Das Bauholz bezieht man aus Siam ... Der Handel Singapura´s mit China ist sehr bedeutend. Er gewinnt auch von Jahr zu Jahr an Ausdehnung, mit Siam und Kochinchina, und vor einigen Jahren hat man auch einen wichtigen Verkehr mit Manilla eröffnet. 1823 liefen 216 große Schiffe und 1550 kleinere Fahrzeuge ein. Drei Jahre nachher war ihre Zahl beinahe doppelt so groß. Das Kollegium, in welchem die Chinesen, von denen mehrere Millionen in den Inseln des großen indischen Archipels zerstreut sind, ihre Kinder außer ihrer Muttersprache noch in der englischen, und in den Grunsäzen der christlichen Religion unterrichten ließen, ist nach Singapura verlegt und mit dem dortigen malayischen Kollegium vereinigt worden. So bieten sich Zivilisazion, Handel, Religion und Moral in diesem entlegenen Erdwinkel die Hand, auf welchem ein neues Tyrus sich zu erheben scheint ... Gewerbsamkeit ist der unterscheidende Karakter dieses Volkes, das eine große Vorliebe für die Auswanderung hat. 

Die Chinesen sind im Durchschnitt ehrlich, ruhig, ordnungsliebend, und den Gesezen des Landes, in welchem sie leben, gehorsam. Sie bewahren jedoch immer eine große Vorliebe für ihr Vaterland, und sprechen mit Stolz von demselben. Anderseits sind sie abergläubig, egoistisch und wenig theilnehmend für das wirklich Gute und Schöne, insofern es ihnen nicht individuelle Vortheile darbietet. Das Leiden Anderer rührt sie nicht, und sie sprechen davon mit einer Gleichgültigkeit, die man beinahe für Spott halten möchte. Bevor sie einen Menschen retten, der auf dem Punkte ist, zu ertrinken, unterhandeln sie mit ihm über die Summe, die er ihnen für diesen Dienst zu bezalen hat. Sie betrachten Hungersnoth, Pest und Krieg nicht als Plagen, wie alle übrigen Völker, sondern als Umstände, welche den Überlebenden große Vortheile gewähren. Unter dem politischen Gesichtspunkte betrachtet bildet diese Menschenrace bei dem allem die nüzlichste aller derjenigen, welche den indischen Archipel bewohnen. Sie ist kräftig, an Arbeit gewöhnt, mäsig, und enthält die besten Arbeiter und Landwirthe, so wie die unternehmendsten Kaufleute. Beinahe alle Chinesen lieben leidenschaftlich die Hasardspiele und die Hahnenkämpfe. Dagegen betrinken sie sich auserst [sic!] selten.“

Tatsächlich wurde in dieser durch europäisches Superioritätsgefühl geprägten Schilderung das Händlerdilemma, welches Schlee in seinem Beitrag bespricht, deutlich. Für den europäischen anonymen Betrachter von 1835 waren „die Chinesen“ eine homogene Gruppe mit festen volkseigenen Eigenschaften, die zutiefst berechenbar erschienen, wobei der Anonymus die „bang“-Struktur dieser Immigrantengemeinschaft nicht kannte, da er zu oberflächlich das Fremdheitsphänomen betrachtete. Seine Schilderungen waren zudem fernerhin stereotyp angelegt, sowohl in negativer wie positiver Hinsicht. Das machte „die Chinesen“ in Singapur für den anonymen Besucher und Reisenden hinreichend fremd (Geldaffinität, Aberglaube, Empathielosigkeit, Egoismus), über einen impliziten Vergleich der protestantischen Arbeitsethoshaltung in Europa aber auch zugleich hinreichend vertraut (Nützlichkeit, Enthaltsamkeit, Arbeitsfleiß, Gesetzestreue).

Besieht man sich insgesamt das 476seitige Beersche Werk mit der ISBN-Nummer 978-3496-02844-4, welches paperbackgebunden 24,95 Euro kostet, so enthält es vor allem Reflektionen und Forschungsberichte zu wichtigen Gegenständen und Forschungsbereichen der modernen Ethnologie, die sich zuvörderst als gelungener Einstieg in die Disziplin eignen. Hierzu gehören auch auf den Punkt in Tabellen, Auflistungen oder Grafiken gebrachte Methodendefinitionen, die praktisch für die eigenen Forschungen nutzbar gemacht werden können (z.B. Definitionsmerkmale einer Ethnie auf Seite 63-65 oder einer Filiationsgemeinschaft auf Seite 132-135), auch wenn, insgesamt besehen, das Werk vor allem Hintergründe vermittelt, die vor der eigentlichen Forschungstätigkeit liegen und somit namentlich für die Legung von Grundlagen in ethnologisch grundständigen Bachelorstudiengängen nutzbar gemacht werden können, zugleich aber auch als Kompendium über die neuesten Entwicklungen und als Forschungsstandsbericht genutzt werden können.

Kohl dagegen möchte allein schon mit seinem Titel eher progressiv wirken und bezieht sich, absehend von der historisch fundierten Ethnologie mit ihrer Konzentration auf außereuropäische Völkerschaften, die bei Beer eher behandelt werden (und damit einem konservativen Verständnis von Ethnologie huldigen), grundsätzlich auf die Behandlung der Xenologie, wenn er von Ethnologie spricht. Auch sein Werk ist eine für die akademische Ausbildung gedachte Introduktion und Heranführung an die Disziplin. 

Allerdings bleibt auch Kohl nicht nur „am Fremden“ interessiert, sondern befaßt sich hauptsächlich mit Herkunft, Geschichte und Selbstverständnis der Ethnologie, schildert detailliert die historischen Diskurse über „Wilde“, „Primitive“ und „Natürvölker“ mit ihren zeitspezifischen Verortungen in der jeweiligen europäischen Kultur, schlägt Alternativbegriffe wie „Stammesgesellschaften“, „schriftlose Kulturen“ oder “Indigene“ vor. Bei allen diesen Erörterungen ist Kohl eine gesunde Portion Selbstkritik eigen, versucht er immer auch im Popperschen Sinne zu falsifizieren und die eigenen Definitionen kritisch zu hinterfragen, was sicherlich einen großen Vorteil seines Buches ausmacht: Das Urteil der Verwendung bestimmter Begriffe bleibt den Lesenden überlassen; Kohl versorgt sie aber mit dem nötigen gedanklichen Rüstzeug, schildert Vor- und Nachteile von Begrifflichkeiten in bereits verflossenen, aber auch in noch immer aktuellen Diskursen. 

Insofern kann Kochs Werk als poststrukturalistische Dekolonisationsmaßnahme verstanden werden, die vor allem sensibel mit ihren Forschungsgegenständen hantiert, auch wenn „das Hantieren“ im Forschungszusammenhang immer noch ein mit Macht (nämlich über Deutungshoheiten) verbundener kritischer Prozeß ist. Darauf geht Koch lobenswerterweise auch in einem gesonderten Abschnitt ein, in dem er eindringlich das Problem der Darstellung „fremder Lebensformen“ schildert.  Dazu gehören auch die transaktionalen Rückwirkungen von Beobachtern und Beaobachteten im ethnologischen Forschungskontext: Der Neuendettelsauer Missionar Carl Strehlow (1871-1922) und sein Sohn Ted Strehlow (1908-1978), ein Ethnologe, beobachteten und beschrieben beispielsweise den Arandastamm der Aborigines, der in Zentralaustralien lebte, veränderten aber allein durch ihre Anwesenheit die ethnischen Kontexte. So arbeiteten beispielsweise nomadisierende Aborigines als Viehhirten auf der missionsseitig errichteten inneraustralischen Missionsstation namens Hermannsburg und wurden seßhaft, modifizierten also allein durch den Kontakt mit den Beobachtenden ihre Lebensweise, ganz abgesehen davon, daß Vater Strehlow davon überzeugt war, daß die Aborigines, nachdem er sich zunächst davon überzeugt hatte, daß sie tatsächlich Menschen seien (sic!), „Heiden“ wären, denen man die „wahre“ Botschaft bringen müsse (siehe dazu Hartwig F. Harms: Träume und Tränen. Hermannsburger Missionare und die Wirkungen ihrer Arbeit in Australien und Neuseeland, Hermannsburg 2003).

Auf diese und weitere Rückwirkungen geht Kohl ein, schildert ferner die Feldforschung und insbesondere die teilnehmende Beobachtung als - auch heute noch - prominenteste ethnologische Forschungsmethode (Seite 100-119), befaßt sich aber auch mit Theorien der Ethnologie und schildert die Grundzüge und Hauptmerkmale von diffusionistischen, funktionalistischen, strukturalistischen, kulturrelativistischen, neoevolutionsitischen und kulturökologischen Positionen (Seite 130-172). Zudem geht Kohl, was das Beersche Werk in dem Maße nicht tut, auf etliche spezielle soziale Phänomene ein, so beispielsweise das Andorra-Syndrom (Seite 177), also das Phänomen, daß sich Ausgewanderte als Folge von Fremdheitserfahrungen im Gastland häufig überaus stark mit den Moralvorstellungen und kulturellen Codices der ehemaligen Heimat identifizieren und dies intensiver als ihre Landsleute daheim pflegen. 

Außenstehende mögen freilich bisweilen in apozyklischer Hermeneutik befangen sein, wenn sie diese Liebe zur heimatlichen Referenzkultur als seltsam und merkwürdig empfinden. Ein Beispiel dafür ist die stark ethnozentrische Schilderung des Leutnants zur See Reinhold Werner, die dieser in seiner Schrift „Die preußische Expedition nach China, Japan und Siam in den Jahren 1860, 1861 und 1862 im Band I., erschienen in Leipzig 1863 auf den dortigen Seiten 94-95 publiziert hatte. Dabei zeigte Werner wenig Verständnis und ebenso wenig Kenntnis chinesischer Kultureigenheiten, so daß er allzu oberflächliche Eindrücke sammelte, ohne sich darüber klar zu werden, daß eine tiefer gehende Beschäftigung mit der Thematik zu Erkenntnissen eines gegenseitigen kulturellen Verstehens geführt hätte: 

„In den chinesischen Tempeln war man nicht so ungefällig, sondern ließ uns nach Belieben alles besehen, abzeichnen und anfassen. Es existiren in Singapore drei größere derselben, zwei innerhalb und einer außerhalb der Stadt; ich besuchte sie alle drei und fand sie im Äußern und Innern ziemlich ähnlich. Von sämmtlichen chinesischen Gebäuden Singapores sind sie die einzigen, bei denen der sogenannte chinesische Baustil beibehalten ist. Zuerst tritt man in einen Vorhof oder Garten, dessen gewöhnliche Zierde der große rothe Hahnenkamm ist. An der Mauer zur Rechten und Linken befindet sich ein Ofen. Das einzige Geschäft der im Tempel wohnenden Priester scheint zu sein, in diesen Öfen von Zeit zu Zeit bedruckte Zettel zu verbrennen, und ebenso scheint der ganze Cultus der Tempelbewohner darin zu bestehen. Die Chinesen sind ein praktisches Volk, das in vieler Beziehung Ähnlichkeit mit den Nordamerikanern hat. Ihr Gott ist Geld, und auch bei ihnen gilt gleichfalls der Grundsatz: „Zeit ist Geld." Wozu soll also der Chinese seine werthvolle Zeit mit Hersagen von Gebeten vergeuden? Er hat es viel bequemer, von den Priestern für einige Cash die wirksamsten gedruckten Gebete zu kaufen und sie gleichzeitig in einem der Öfen verbrennen zu lassen. So ist allen Theilen geholfen. Der Gott hat seine Gebete, der Priester sein Geld und der Tempelbesucher das Bewußtsein, seine religiöse Pflicht erfüllt zu haben. Bequemer kann doch kein Cultus sein! 

Es würde eine schwierige Aufgabe sein, das Innere eines chinesischen Tempels beschreiben zu wollen. Es ist nur eine Anhäufung von Schnurrpfeifereien, Sachen und Sächelchen, für die wir weder einen Namen haben, noch uns einen Zweck denken können. Eine Menge Tische sind damit angefüllt, und von der Decke hängen ebenso viel bunte Papierlaternen, Ampeln, Kronleuchter usw. Eine Unzahl von Blumentöpfen steht umher, in denen Hunderte von dünnen wohlriechenden Stäbchen glimmen, d.h. für chinesische Nasen wohlriechend, denn für die unsern ist der Qualm schrecklich. Im Hintergrunde des Tempels befindet sich das Allerheiligste. Mit Hülfe einer den Priestern offerirten Cigarre gelangten wir auch dahin. Der Weg führte durch eine Lichtzieherei, in der von den Bonzen die für besondere Feierlichkeiten erforderlichen Kerzen angefertigt werden. Es roch ziemlich unangenehm und war sehr schmuzig. Im Allerheiligsten thront unwandelbar das Bildniß des Confucius. Um dasselbe brennen eine Menge Lichter und glimmen unzählige Stäbe, die in China täglich millionenweise verbrannt werden. Ebenso sind unter den Heiligen allerlei wunderliche Götzenbilder, Drachen und sonstige unbegreifliche Figuren gruppirt. In ein paar Steintrögen wurden heilige Schildkröten gehalten, und an den Wänden haben sich chinesische Künstler mit den wunderbarsten Erzeugnissen der Phantasie verewigt, während die Priester zur Verschönerung des Tempels an dessen Wände eine Menge Bilder aus den Illustrated London News angeklebt haben, die nach unsern Begriffen durchaus nicht in ein Gotteshaus gehören. Genug, ein chinesischer Tempel in Singapore ist ein unbeschreibliches Ding, das mit allem andern Ähnlichkeit hat, nur nicht mit einem religiösen Gebäude.“

Reinhold Werner (1825-1909), später übrigens im Jahre 1901 preußischerseits von König Wilhelm II. nobilitiert und zuletzt Kaiserlich Deutscher Vizeadmiral außer Diensten,  war damit deutlich nicht ethnologisch als Beobachter nach dem wissenschaftlichen Neutralitätsbegriff der „epoché“ oder der „Ausklammerung der Transzendenz“ noch Flournoy, also einem „internen Kulturrelativismus“, unterwegs, sondern ging lediglich von seinem eigenen kulturellen Standpunkt aus. Daher erschlossen sich ihm auch nicht die Bräuche um das Verbrennen von Totengeld als Ahnenverehrung. Auch die Tempelinventarien erschienen ihm lediglich als ein ungeordnetes und mehr zufälliges Sammelsurium ohne Sinn, als „Schnurrpfeifereien“ und Beliebigkeiten.

In jedem Fall waren die Chinesen in Singapur ein gutes Exempel einer typischen Händlerdiaspora nach Cohen - der Begründer der Diasporentheorie veröffentlichte sein Modell 1997 in Seattle unter dem Titel „Global diasporas. An introduction“, auf die auch Koch unter dem Stichwort der „pluriloklen Netzwerke“ und „Ethnoszenerien“ eingeht (Seite 176-177).

Bei aller Beschleunigung der Globalisierung plädiert Koch in seinem 253 Seiten starken Paperbackbuch, welches für 18,95 Euro unter der ISBN-Nummer 978-3-406-46835-3 zu erwerben ist, zuletzt auch für das Muster der mittelalterlichen Hexe Hagazussa, die auf einem Zaune zwischen den Welten sitze und beobachte - genau so, so Kohl, müsse sich auch die Ethnologie künftig verhalten, wenn sie „das Fremdsein“ in einer sich stark wandelnden Welt der Postmoderne erforschen wolle (Seite 199-201), die in immer stärkerem Maße Fremdheitserfahrungen in allen Lebensbereichen ausgesetzt sei. Gleichwohl hält Kohl am Begriff der „Fremdheit“ fest, den Vertreter der interkulturelle Philosophie als zu diametral konstruiert ablehnen. Sie schlagen stattdessen den Begriff „des Anderen“ vor und dies scheint ein überdenkenswerter interdisziplinärer Vorschlag zu sein (zur Kritik und Begründung siehe Hamid Reza Yousefi und Ina Braun: Interkulturalität, Darmstadt 2011, Seite 46).

Kaschuba schließlich widmet sich  in seinem Werk ganz der „europäischen Ethnologie“, die weniger die Völkerkunde als vielmehr die Volkskundedisziplin als Gründungswissenschaft zur Ahnschaft hat. Dabei wird der forschende und erkenntnisleitende Blick, so kann es grob beschrieben werden, vom örtlich (in der Regel außereuropäischen) „Fremden“ zumeist auf das zeitlich „Fremde“ in den eigenen europäischen „Kulturräumen“ verschoben, wenngleich hier bereits von gemeinsamen „Kulturräumen“ als Prämisse und Prädisposition ausgegangen wird. Der Wandlung von der Volkskunde von ihrer Geburt in der Romantik über Kaiserreich und Nationalsozialismus hin zu einer alltagsreflektierenden Wissenschaft, die in der Gegenwart auch bisher scheinbare Randfelder der Forschung (wie die Geschichte und Bedeutung von Müll, das Konzept der Nachhaltigkeit oder die materielle Kultur der Sänfte) bearbeitet, widmet Kaschuba einen großen Raum (Seite 17-111).

Nach diesem Abschnitt zur Wissens- und Wissenschaftsgeschichte der Disziplin nimmt sich Kaschuba sodann des Feldes der „Begriffe und Theorien“ an (Seite 113-193). Hier behandelt er in einer Vielzahl von Schilderungen die vier Punkte der Perspektiven, Konstruktionen, Schicht-, Klassen- und Genderverortungen, Prozesse und Zeichen. Hierbei führt er in die wichtigsten Theorien ein, so die des Habitus von Bourdieu (Seite 155-158), um nur ein einziges Beispiel zu nennen. Mit dem dritten großen  Themenblock „Methoden und Felder“ schließt Kaschuba sein narrativ attraktives Einführungswerk, welches er bisweilen sogar mit Anekdoten aus seinem Hochschullehreralltag garniert. Hierin wird nicht nur die teilnehmende Beobachtung mit ihren Chancen und Risiken vorgestellt (Seite 196-213), sondern auch auf diverse Konzepte verwiesen, mit denen ein Untersuchungsgenstand bearbeitet werden kann. Dabei erörtert Kaschuba sowohl mikrohistorische, artefaktisch orientierte, diskursanalytische und textrepräsentative Fragen. Da seine Darstellungen insgesamt zugleich auch immer selbstreflexiv angelegt sind, machen sie stets auch mit Vor- und Nachteilen bestimmter Begriffe oder Modelle bekannt, was deren Einordnung fürs Erste sehr erleichtert, bevor Studierende tiefer gehend in die Materie eindringen und sich mit den originalen Texten beschäftigen.

Alle drei Werke verfügen selbstverständlich über Literaturverzeichnisse und Bibliographien und zudem, einzeln aufgeführt oder aber miteinander in einem Alphabet kombiniert, Register der Personen und Sachbegriffe (bei Beer Seite 471-476, bei Kohl Seite 245-253 und bei Kaschuba Seite 277-284). Sie bieten indes nicht nur den Studierenden der Ethnologie und europäischen Ethnologie einen leichten Einstieg, sondern auch Vertreter*Innen von Nachbardisziplinen, aus Kulturwissenschaften, Geschichte, Politologie, Soziologie, Governance et cetera. Denn der Umgang mit „dem Anderen“, in der Ethnologie einst bezogen auf räumlich weit entfernte Gesellschaften und Gemeinschaften, ist mit dem digitalen Zeitalter und der Ablösung der industriellen Revolution im XXI. Jahrhundert alltäglich geworden. Umso  wichtiger sind hier auch ethnologische Grundkenntnisse, die mit dazu beitragen können, das Verstehen „des Anderen“ zu befördern und bisweilen eine zurücktretende Megasichtweise einzunehmen. Die drei Werke sind daher zwar vor allem für die Hochschullandschaft und Ausbildung künftiger Ethnologen von Wert, dürfen aber darüber hinaus auch einen gesamtgesellschaftlichen Anspruch von Wichtigkeit erheben.

Diese Rezension, verfaßt von Claus Heinrich Bill (B.A.), erscheint zugleich in unserer instutseigenen Zeitschrift für deutsche Adelsforschung.


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