Institut Deutsche Adelsforschung
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Gefühlsgeschichte und Emotionsgeschichte

Bericht über den Sektionsverlauf des 50. Historikertages 2014

Am Mittwoch den 24. September 2014 traf sich vormittags in der Georg-August-Universität zu Göttingen die Sektion „Fühlen wir (jetzt auch noch) Geschichte? Emotionsforschung als Erkenntnisgewinn oder Orientierungsverlust“ unter der Leitung der Moderatorin Prof. Dr. Dorothee Wierling von der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg. 

Panelist*Innen waren zum größten Teil solche Historiker*Innen, die sich bereits auf die eine oder andere Weise mit Emotionsforschung befaßt oder Interesse daran gezeigt hatten. Zu ihnen zählte Prof. Dr. Ute Frevert vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin, Prof. Dr. Frank Bösch vom Zentrum für zeithistorische Forschung in Potsdam, Dr. Benno Gammerl M.A. M.A. vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin, Prof. Dr. Valentin Groebner (von der Universität Luzern, gemäß der Ankündigung des Historikertages jedoch anderslautend angeblich aus Bern), schließlich Prof. PhD. Lyndal Roper von der Universität in Oxford. 

Der Reihe nach gaben die Diskutant*Innen ihre Beiträge bekannt, wobei diese nicht miteinander verbunden waren, durchaus aber wegen ihrer ganz unterschiedlichen Ansätze und Herangehensweisen die Mannigfaltigkeit des Themas bewiesen. Bei ihrer Einleitung stellte Wierling die Frage in den Raum, ob die Emotionsgeschichte eine mögliche neue Subdisziplin der Geschichtswissenschaft sei oder werden könne. Denn weil Gefühle offensichtlich auch in vielen Fällen mitentscheidend für menschliches Handeln seien, dürften sie auch in der Forschung einen größeren Platz einnehmen. Dennoch sei die Frage zu stellen, wie Gefühle beschrieben, zu erfassen und methodisch in der Historiographie zu behandeln seien.

Die erste Stellungnahme kam von der Gefühlsforscherin Frevert. Demnach sei Emotionsgeschichte keiner der üblichen Turns in der Geschichtswissenschaft, habe bereits Ende des XIX. Säkulums Vorläufer besessen, sei dann mit Norbert Elias und Louis Febvre sowie der Annales-Schule bereits Forschungsgegenstand gewesen. Zugleich seien aber die Annalisten nur die Keimzelle der Gefühlsgeschichte gewesen. Emotionsgeschichte, oft bei den Panelist*Innen synonym für Gefühlsgeschichte benützt, sei aber nicht mit der Mentalitätengeschichte von Bloch und Febvre gleich zu setzen. Frevert meinte, Mentalitäten seien vor allem kognitiv zu begründen (z.B. Ehre als Verhaltensdispositiv), Emotionsgeschichte aber affektiv (z.B. Ehre als emotionale Konditionierung). Trotz aller Abgrenzungsversuche wollte Frevert allerdings nicht so weit gehen, die Emotionsgeschichte als neue Subdisziplin zu bezeichnen; sie sei lediglich eine neue Perspektive, bei der es vor allem darum gehe, zu erkennen, daß Gefühle stets kulturabhängig seien, also nie in zwei Kulturen, Räumen oder Zeiten absolut gleich empfunden werden müssen. 

Forschungsgegenstand der Emotionsgeschichte seien daher vor allem Gefühlskulturen, deren Wandel im Laufe von Zeit und Raum ebenso wie deren Konstituierung, Instrumentalisierung oder Transformation untersuchungsfähig wären. Frevert wies jedoch auf die Problematik hin, daß Emotionsgeschichte immer auch eine gewisse Unsicherheit mit sich bringe, was im Untersuchungsgegenstand begründet liege. Hierbei gehe es nicht nur um die Frage, was denn Emotionen oder Gefühle genau seien, sondern auch um die Schwierigkeit, Gefühle meßbar und damit erst für eine Gefühlsgeschichte fruchtbar zu machen. Gefühle würden sich, so Frevert, zudem nicht erfassen lassen können, lediglich der Wortausdruck von Gefühlen sei bei historischen Akteur*Innen feststellbar.

Anschließend stellte Groebner die Frage in den Raum, ob die Emotionsgeschichte eine neue Verheißung böte. Er fragte sich weiters, ob sie eine grundlegende Disziplin sein könne. Er sei skeptisch bei allem, für das kein Gegenteil formuliert werden könne und warnte daher vor einer zu großen Universalisierung der Gefühlsgeschichte. Ferner machte er darauf aufmerksam, daß Gefühle stets Hierarchien konstituieren oder diese abbilden würden. Er sagte ferner, daß im Status einer Ständegesellschaft die höhergestellten Personen seiner Auffassung nach intensiver fühlten und, das könne man den Fürstenspiegeln als verschriftlichten Erziehungsidealen künftiger Herrscher ablesen, die einen Beweis für seine These darstellen würden, beherrschter sein würden. Allerdings ergäbe sich bei der Gefühlsgeschichte die Problematik, daß sich echte nicht von unechten Gefühlen unterscheiden ließen.

Anschließend gab Bösch als bekennender Nichtemotionsforscher zu bedenken, man könne Gefühle künftig dort untersuchen, wo man sie nicht prominent erwarten würde. Er stellte daher anheim, daß bislang eher unbeachtete Gefühle, wie z.B. Heimweh, auch untersuchenswert wären. Ebenso könnten viel mehr als bisher „emotional spaces“ ausgelotet werden, d.h. die Forschung könnte sich bestimmten Räumen, die zur Erzeugung bestimmter Gefühle von Akteur*Innen aufgesucht würden, zuwenden (er nannte als Beispiele Achterbahn, Börse, Schützengräben). Auch die „Schulen des Emotionalen“ seien einen Blick wert, also die Frage nach der Sozialisation von Gefühlen, den Arten und Formen der Heranbildung kulturspezifischen Emotionsmanagements und dem Werkzeugkasten der „erlaubten“ und „unerlaubten“ Gefühle. Auch die Verbindung von Medien und Emotionen sollte näher untersucht werden und könnte in den Blick der Forschung geraten, mithin die Frage, ob Menschen bestimmte Medien benutzen, um bestimmte Gefühle zu erzeugen (z.B. bei Krimis die Angstlust oder den Thrill). Schließlich stellte Bösch die Frage, was die Historiographie von den Naturwissenschaften als erhellenden Beitrag erwarten dürfe.

Roper dagegen ging die Emotionsgeschichte eher pragmatisch an und stellte klar, daß im Fall der Beziehung zwischen Luther und Melanchthon klar werde, daß Emotionen einen großen Stellenwert bei der Herausbildung der Reformation gehabt hätten und diese nicht allein eine rationale Bewegung gewesen sei. Gefühle würden fernerhin stets in sozialen Interaktionen hervor gebracht, was einer ihrer wichtigsten konstituierenden Rahmenbedingungen sei. Sie hätten außerdem den Vorteil, das ausdrücken zu können, was Worte nicht ausdrücken könnten und würden daher die Forschung ungemein bereichern können.

Gammerl schließlich behauptete, daß Gefühle basale menschliche Ausdrucksformen wären, da sie nicht steuerbar seien. Sie gäben aber doch die Möglichkeit, Dinge auszudrücken und zu benennen. In seinem Forschungsbereich, der Homosexuellenforschung, habe z.B. auch der Ausdruck bestimmter Gefühle zu einer größeren Identitätsfestigkeit bei Homosexuellen geführt, die ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität beim Reden über ihre Gefühle erst eine gewisse Form verschaffen konnten. Jedoch ließen sich Gefühle, und hier widersprach Gammerl ausdrücklich Frevert, nicht von ihrem Ausdruck trennen. Er wandte sich abschließend gegen die Auffassung, daß es Epochengefühle geben würde. So sei beispielsweise kein Epochengefühl des deutschen Kaiserreichs feststellbar; derartige generalisierende Behauptungen seien vielmehr als pauschalisierende Großnarrative skeptisch zu betrachten.

Bei der anschließenden Diskussion mit dem Plenum aller Teilnehmenden kam aus dem Publikum die Frage, ob denn nicht die Berücksichtigung der Psychologie auch einen Stellenwert in der Emotionsgeschichte beanspruchen dürfe und ob es hier interdisziplinäre Überschneidungen gäbe. Frevert verneinte dies mit der Bemerkung, daß die Psychologie als empirische Wissenschaft mit ihren Versuchen nur sehr begrenzte und nicht universalisierbare Ergebnisse erbringen würde, die daher für eine Anwendung in der Geschichtswissenschaft nicht tauglich wären. Es gäbe z.B. in der Psychologie unüberschaubar viele Definitionen darüber, was denn überhaupt Gefühle und Emotionen seien. Zu kleine Samples, zu große Situationsbezogenheit und mangelnde Repräsentativität der Ergebnisse ließen es ihrer Meinung nach nicht zu, hier interdisziplinär mit Gewinn für die Emotionsgeschichte zu arbeiten. Jeder Universalisierungsanspruch der Psychologie sei daher kritisch zu besehen. 

Groebner gab jedoch zu bedenken, daß auch die historische Perspektive, von Frevert dem Sinne nach als Grundlagenwissenschaft bezeichnet, keine Generalperspektive auf Gefühle sein müsse. Es sei doch sinnvoller, Emotionsgeschichte punktuell anzuwenden, d.h. nur bei bestimmten Fragestellungen heran zu ziehen, dann dies aber mit Gewinn. Gleichwohl gäbe es so gut wie keine historische Quelle, in der nicht Gefühle zum Ausdruck gebracht würden. 

Gammerl stellte sich anschließend auf Freverts Seite und sprach sich wider eine Universalierung psychologischer Ergebnisse und deren Verwendung in der Gefühlsgeschichte aus.  Der letzte Gedanke der zweistündigen Sektion befaßte sich mit der Frage, ob nicht, wie Groebner meinte, die Diskursgeschichte nach Foucault bereits erschöpft sei. Foucault untersuche das Sagbare und Gesagte, Emotionsgeschichte könne dagegen das Unsagbare einfangen und analysieren, sei also eine wesentliche Erweiterung der bisherigen historiographischen Perspektiven. In ihrem Abschlußwort stellte Wierling fest, daß wohl unumstritten sei, daß die Emotionsgeschichte einen wichtigen Platz in der Geschichtswissenschaft beanspruchen dürfe, sie wundere sich gleichwohl darüber, warum so wenig Egodokumente, die ihr als emotionsgeschichtliche Primärquelle erscheinen, verwendet würden.

Abgesehen von den weitgehend unzusammenhängenden und nur schwer vergleichbaren Statements der Panelist*Innen bleibt als Resumée der Sektion das Fazit zu ziehen, daß Emotionsgeschichte eine Perspektive oder Subdisziplin der neueren Geschichtswissenschaft ist, die mit Jan Plampers Werk über „Geschichte und Gefühl - Grundlagen der Emotionsgeschichte“ (München 2012) auch bereits eine wissenschaftliche Einführung besitzt und eine aufstrebend novitäre Untersuchungskategorie darstellt, die neue Blicke und Ergebnisse auf alte Untersuchungsgegenstände ermöglichen könnte. Allerdings ist die Stellungnahme Freverts hier zumindest in Frage zu stellen, ob denn die Psychologie keinen Beitrag zur Emotionsgeschichte leisten könne. Zumindest aus der Sozialpsychologie könnten Ergebnisse rezipiert werden, auch wenn freilich darüber nachzudenken wäre, inwiefern diese tatsächlich nur minder übertragbar wären. Was aber, um zwei Beispiele herauszugreifen, wäre falsch und unzeitgemäß daran, z.B. die heutigen Merkmalskataloge des positiven und negativen Impression-Managements nach Mummendey (bei Bierhoff und Frey: Handbuch der Sozialpsychologie, Göttingen 2006, Seite 53) oder das Salutogenesekonzept nach Antonovsky (bei Renneberg und Hammelstein: Gesundheitspsychologie, Hreidelberg 2006, Seite 13-17) auch für die Emotionsgeschichte zu rezipieren und historisch anzuwenden?

Andererseits gilt, daß Historiker*innen ohnehin nie einen vollkommen neutralen Standpunkt einnehmen können und her stets aus der eigene Verfaßtheit ihrer Person, Sozialisation und Kultur heraus agieren und argumentieren. Dementsprechend würde auch die Hereinnahme und Nutzung von psychologischen Erkenntnissen, die heute verbreitet sind, keinem Schaden gleichkommen oder die konstruktiv erstellte Objektivität gefährden. Auch Freverts Argument, es gäbe eine viel zu große Bandbreite an Gefühls- und Emotionsdefinitionen, ist ein schlechtes Argument. Diese Vielfalt besteht, namentlich in kulturwissenschaftlichen Bereichen, grundsätzlich ständig und erfordert von Forschenden eine kluge Auswahl, die aber durchaus zulässig und sogar erwünscht ist, wenn sie gut für das jeweilige Forschungsdesign begründet werden kann. Allein also die Mannigfaltigkeit von Ansätzen ist daher kein Manko oder Grund, nicht interdisziplinär arbeiten zu wollen. Solange die intersubjektive Nachvollziehbarkeit möglich ist, kann jede interdisziplinäre Verknüpfung von Methoden und Theorien geeignet sein, bestimmte Gegenstände der Forschung zu untersuchen. Den starken Abschließungstendenzen von Frevert ist daher in diesem Fall entgegenzutreten; gerade diese Auffassung verhindert einen perspektivwechselnden Erkenntnisfortschritt durch Rückzug auf und die peinliche Wahrung von Disziplingrenzen.

Abschließend ist nicht zu verkennen, daß die Sektion die Wichtigkeit der Emotionsgeschichte insgesamt auf einer Metadiskussionsebene bereichert hat, ohne daß Methodiken der Untersuchung, Theorien oder Modelle erwähnt worden wären. Die zum Glück schon recht reichhaltig vorhandene Literatur zur Perspektive oder Subdisziplin, wie immer man die Emotionsgeschichte nun auch nennen mag, zeugt jedenfalls von dauerhaftem Interesse an einer noch auszulotenden Sichtweise, die sich durchaus nicht als Konkurrenz zur Diskursanalyse verstehen muß. 
Vielmehr scheint es doch so zu sein, daß das jeweilige konkrete Forschungsmodell mal diese und mal jene Perspektive einnehmen kann, je nach Erkenntnisinteresse. Insofern hat die Sektion eine weiteren Blickwinkel wieder einmal mehr in den Fokus gerückt, eine Perspektive, die in den kommenden Jahren, noch weiter ausgebaut, vielfache Aha-Effekte erzeugen kann; das Potential dazu, so hat die Sektion insgesamt erwiesen, besitzt sie zweifelsfrei.

Verfasser dieses Aufsatzes und Sektionsberichts ist Claus Heinrich Bill, B.A.


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