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Der sächsische Staatsminister Detlev v.EinsiedelEin Adeliger zwischen den Welten im langen 19. JahrhundertAls 1861 ein Mann der Vergangenheit, ein ehemaliger sächsischer Politiker, verstarb, waren die Zeitungen und die aufkommende Massenpresse ehrerbietig genug, von seinem Ableben wohlwollend und würdigend Kenntnis zu nehmen; so wurde sein irdisches Dahinscheiden überregional, wenn auch nicht in einer allzu umfangreichen Meldung, wie folgt bemerkt: „Dresden, 21. März. Gestern ist hier in dem hohen Alter von 88 Jahren ein Mann gestorben, der seiner Zeit auf der politischen Schaubühne Deutschlands eine hervorragende Rolle gespielt hat. Der königl.[ich] sächsische Cabinetsminister a.[ußer] D.[iensten] Graf Detlev von Einsiedel stand in den Jahren von 1816 bis 1830 an der Spitze der innern und äußeren Verwaltung des Königreichs Sachsen und übte vermöge des unbegränzten Vertrauens, welches der damalige König Friedrich August I. ihm schenkte, weit über die Gränzen seines engern Vaterlandes hinaus einen hervorragenden Einfluß. Durch den September-Aufstand des Jahres 1830, welcher später zur Einführung einer Constitution in Sachsen führte, gestürzt, lebte Graf Einsiedel während der letzten dreißig Jahre seines Lebens der Verwaltung seines nicht unbeträchtlichen Grundbesitzes, der größtentheils in der preußischen Provinz Sachsen gelegen war.“ [1] Waren dies die wesentlichen Charakterzüge des Verstorbenen, seine wichtigsten Betätigungsfelder, war er vor allem Konstitutionsvater und Gutsherr auf Wolkenburg? [2] Eine neue Biographie aus dem Jahre 2023 versucht diese Fragen nun erneut zu gewichten, zu klären, zu vertiefen, zu bewerten, ausführlicher zu erörtern. [3] Demnach war Einsiedel vor allem in drei Bereichen tätig, erstens der restaurativen sächsischen Politik der Metternichschen oder Biedermeierzeit, zweitens aber auch als Industrieller mit seinen Eisenwerken, zugleich drittens führend in der evangelischen Missionierung, in Bibelgesellschaft, Kirche und Diakonie. Sozialisiert wurde Einsiedel noch im Ancien Régime, gestorben ist er im industriellen Zeitalter und der grundlegenden Umwandlungsphase einer Agrar- in eine Industriegesellschaft, mit grundstürzenden Veränderungen nicht nur in der sächsischen wirtschaftlichen, sondern auch sozialen Historie und Entwicklung. Einsiedel kann in dieser Umbruchs- und auch für den Adel schwierigen und herausfordernden Liminalitätsphase als gelungenes Beispiel für das „Obenbleiben“ angesehen werden, [4] für Innovations- und Renovationsimpulse. Er gehörte zu den Adeligen, die durch Anpassung das Traditionale zu bewahren wußten und als „Etablierte“ im Kampf um Ressourcen die „Außenseiter“ fernzuhalten verstanden. [5] Von besonderer Bedeutung ist dabei der Dreiklang aus staatsmännisch-politischer Tätigkeit, wirtschaftlich-ökonomischen Engagements und zugleich einer tiefen Verwurzelung im christlichen Glauben. Diese drei Bereiche der Biographie werden in dem Werk gekonnt zusammengeführt, gleichgewichtet betrachtet. Hierbei war es die selbstgestellte Aufgabe des Biographen, die Überspitzungen aus den Sekundärquellen, sei es nach der einen oder anderen Seite, im Bedarfsfalle abzumildern, sie möglichst mit weiteren Quellen zu konfrontieren und abzugleichen, um errst dann zu einem wertenden Urteil zu kommen. Das galt sowohl für die Aussage, Einsiedel sei ein „sächsischer Metternich“ gewesen (Seite 199), aber dies galt ebenso für Einsiedels Religiosität (Seite 297). Um dieser Absicht gerecht werden zu können, hat der Verfasser diverse Archivalien ausgewertet, in den unterschiedlichsten Staatsarchiven; die Liste auf Seite 352-357 der dazu in aufwendiger Recherchearbeit vor Ort in den Archiven benützten Akten ist beeindruckend. Positiv zu sehen ist an der Biographie zudem die Hereinnahme dreier soziologischer Kapitalarten bei der Untersuchung nach Pierre Bourdieu (Seite 207, 210, 212). [6] Allerdings erfolgt die Rezeption des strukturalistischen Modells recht oberflächlich, da der Verfasser vor allem das ökonomische Kapital erläutert. Nach diesem deutlichen Schwergewicht auf den Seiten 207-210 wird auf der Seite 207 das kulturelle Kapital in seinen Merkmalen „Sachverstand, Wertekanon und Habitus“ angekündigt. In der nachfolgenden Erörterung dieses kulturellen Kapitals auf der Seite 210 dann aber fehlen die angekündigten Bezüge zum Habitus, also den inkorporierten Verhaltensstandards, Wahrnehmungs-, Handlungs- und Denkgewohnheiten, [7] denn es werden gar keine körperlichen Bezüge mehr hergestellt, sondern im Dienste des Idealismus‘ lediglich über als bürgerlich etikettierte Werte wie „Pflichtbewußtsein, Verantwortung und Leistungsbereitschaft“ gesprochen. Auffällig ist an dem großen Einsiedelschen Vitenwerk fernerhin eine etwas antiquierte historiographische Sichtweise, die man häufiger im Werk antrifft; dort ist dann die Rede von (für sich genommen durchaus lesenswerten) alten Ansätzen einer strukturalistischen Geschichtsschreibung; zitiert und benützt wurden zum Beispiel ältere Forschungen von Kocka aus den 1980er Jahren. [8] Ein weiterer Beleg ist die Verwendung des Begriffes „Sattelzeit“ für die Zeit von 1750 bis 1850. [9] Er soll beim Verfasser eine Reihe von grundlegenden Umwälzungen formulieren, beschwört dabei jedoch auf der Seite 337 den „Charakter der Zeit“, fällt also erneut in strukturalistische Muster einer veralteten Großerzählung zurück. Hier wäre es anschlußfähiger und innovativer gewesen, neue Wege zu gehen, sich beispielsweise der historischen Praxeologie zu verschreiben und mehr auf körperliche Vollzüge, auf Ereignisse, auf praktisch vollzogene Situationsketten oder Ereignisströme zu beziehen. [10] Dann wären auch historiographische Urteile wie vorgebliche „Widersprüchlichkeiten“ und „Spannungsfelder“, wie sie auf den Seiten 338-339 vermerkt worden sind, obsolet. Freilich erscheint diese Feststellung einer Befremdung anhand der Betrachtung historischer menschlicher Akteur:innen als gewisser (wenn auch fragwürdiger) Mehrwert einer monodisziplinär und daher künstlich enggeführten geschichtswissenschaftlichen Betrachtung, allein berücksichtigt sie nicht, daß sich menschliche Akteur:innen sich in ihrer Alltagswelt schon gut auskannten und sich nicht zwangsläufig dem Urteil nachgeborene Historiker:innen entsprechen mußten, innerlich widersprüchlich gewesen zu sein, [11] abgesehen davon, daß Menschen ohnehin bisweilen entgegen ihrer Prinzipien handeln, es sich bei diesen Denk-Handlungs-Differenzen um eine anthropologische Grundkonstante zu handeln scheint. Da die innere Empfindungswelt ohnehin nur durch Egodokumente wie Briefe oder Tagebuchaufzeichnungen ermittelt werden könnte, ist es mithin problematisch, „Widersprüchlichkeiten“ unterstellen zu wollen, nur weil sie aus Sicht des XXI. Jahrhunderts so erscheinen mögen. In etwas abgeschwächter Form haben Teile der geschichtswissenschaftlichen Forschung hier bisweilen immerhin von der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ gesprochen. [12] Kritisch zu sehen ist auch die mangelnde wissenschaftliche Verortung des Biographievorhabens. Obschon es sich um eine Habilitation und damit nach Aussage des Vorwortes um eine akademische Qualifikationsschrift handelt (Seite 9), fehlen unerklärlicherweise leider reflektierende Bemerkungen über Methode und Theorie derart wissenschaftlicher Biographik, auch wurde im Vorwort des Verfassers nicht darauf hingewiesen, ob die vorgelegte Lebenslaufschilderung für den Druck eigentlich überarbeitet worden ist oder nicht. Lesende bleiben daher im Unklaren darüber, ob die Arbeit in dieser unreflektierten Form über die Grundanlage angenommen worden ist. Der dagegen gut reflektierte Forschungsstand (Seite 12-24) ist der leider einzige vorbereitende Bestandteil der Arbeit, bevor chronologisch aufsteigend mit der Geburt des späteren Ministers begonnen wird. Immerhin wurden aber thematisch sodann die drei Tätigkeitsschwerpunkte Einsiedels angeführt, die als Mehrwert und Alleinstellungsmerkmal der Lebensschilderung des sächsischen Staatsministers gelten können. Wiederum kritisch ist zu bemerken, daß der Literaturnachweis für die These der „Sattelzeit“ zwischen 1750 und 1850/70 als einer Zeit der Formierung der Moderne fehlt. Hier wird zwar auf der entsprechenden Haupttextseite 338 in Fußnote 1 auf ein Werk verwiesen, welches von zwei Autor:innen namens „Décultot“ und „Fulda“ geschrieben worden sein soll, allein im Literaturverzeichnis erscheinen sodann aber erstaunlicherweise diese beiden Namen nicht; man findet sie weder unter „D“ auf Seite 363 noch unter „F“ auf Seite 365. Eine externe Recherche dieses in der Historiographie schon älteren Begriffes, der auf Reinhart Koselleck zurückgeht, ergibt dann immerhin, daß es sich möglicherweise um ein im Jahre 2016 von Elisabeth Décultot und Daniel Fulda herausgegebenes Werk handeln könnte, welches den Titel „Sattelzeit. Historiographiegeschichtliche Revisionen“ trägt, auf einer Tagung von Ende Mai 2013 in Halle an der Saale beruht, die den Namen „Die Vielfalt der Sattelzeit. Strukturen und Tendenzen des historischen Erzählens um 1800 im deutsch-französischen Vergleich“ trug, im Berliner und Bostoner Verlag von Walter de Gruyter GmbH & Co. KG erschienen ist und als Band LII der Schriftenreihe „Hallesche Beiträge zur europäischen Aufklärung“ erschienen ist, wobei es VI und 306 Seiten umfaßte, zahlreiche Illustrationen und Diagramme beinhaltete. Weitere Devianzen im Literaturverzeichnis schließen sich diesem Fehler an. So huldigt der Verfasser ohne erkennbare Systematik einer abweichenden Reihenfolge des für gewöhnlich nach aufsteigender Reihung geordneten ABCdariums. Ein bibliographischer Nachweis zu „Werl“ folgt auf Seite 379 zwar richtigerweise dem Eintrag „Welck“, allerdings notiert erst danach der Verfasser dann „Welzel“ und folgend „Werner“ ein. Eine ähnliche Merkwürdigkeit findet sich auf Seite 378 im Literaturverzeichnis; dort ist die Reihenfolge „Thielen“, „Teichmann“, „Thamer“, „Theiselmann“, „Thümmler“ anzutreffen. An andere Eigenheiten kann man sich gewöhnen, wenn man das System verstanden hat, so beispielsweise die (leider nicht eingangs zum Verzeichnis erläuterte) Regel, daß zusammengesetzte Namen wie Gesamtnamen behandelt werden. Dies bedeutet, daß der Autor auf Seite 378 „Titze“ vor und nicht etwa hinter „Titz-Matuszak“ verortet. Im Literaturverzeichnis seltsam mutet indes der Name eines Autors einer aus dem Jahre 1988 stammenden (veralteten) Metternichbiographie an, der im Buch auf der Seite 361 „Berthier der Sauvigny“ genannt wird. Tatsächlich aber handelt es sich um „Guillaume de Bertier de Sauvigny“; er schrieb „Metternich. Staatsmann und Diplomat für Österreich und den Frieden“. Das 564 Seiten starke Werk, in die deutsche Sprache von Elmar Braunbeck übersetzt, erschien im Original unter dem Titel „Metternich“ bereits 1986 (sic!) in Paris beim Verlag Fayard mit 535 Seiten; dabei hätte es genügend neuen Forschungsstand zu Metternich gegeben. [13] Trotz dieser Mängel wird man aber der Einsiedelbiographie eine Anerkennung nicht versagen können; sie wirft einen aufgefächerten Blick auf das Leben des ehemaligen Staatsministers, Industriellen und frommen Gläubigen, der in dieser Mannigfaltigkeit sonst nicht zu finden ist. Hier erweist sich, neben einem größeren zeitlichen Abstand zum Geschehen, der neue Quellen verfügbar machen konnte, auch die Akribie, Vorliebe und Ausdauer des Verfassers für sein Thema als fruchtbar, um in der sächsischen Landesgeschichte eine Lücke zu schließen; bisher lagen vor allem einzelne Skizzen oder polemisch beziehentlich apologetische Versatzstücke vor, um das Leben dieses für die sächsische Politik des Vormärz bedeutenden Mannes vom biographischen Standpunkt aus zu beleuchten. Aber die Vita Einsiedels ist nicht zuletzt auch einer jener individuellen Erörterungen, die zur sächsischen Adelsgeschichte beitragen und den dort schon guten Forschungsstand wirkungsvoll ergänzen. Einsiedel war demnach ein Mann des Ancien Régime, der jede revolutionäre Bewegung als Gottesschmähung verstand, Stände als von Gott eingesetzte staatliche Ordnung betrachtete, zugleich aber ein innovativer Industrieller war. Dieser Weg war vielleicht Einsiedels Bewältigung der aufkommenden Moderne, politisch letztlich gescheitert und die politische und gesellschaftliche Formierung der Moderne nicht aufhalten könnend, war er an anderer Stelle – im ökonomischen Sektor vor allem der Eisenverhüttung – führender Pionier. Sein Leben muß man nicht zwangsläufig als „Widersprüchlichkeit“ auffassen (Seite 342); es ist vielmehr der ganze Facettenreichtum eines Adelslebens zwischen der Götterdämmerung des Ancien Régime und dem aufgehenden demokratischen Zeitalter, das, was den Adel als soziale Gruppenbildung anlangt, ebenso für Beharrung wie für Re-Inventionen stand. [14] Diese Rezension stammt von Dr. Dr. Claus Heinrich Bill M.A., M.A., M.A., B.A., B.A. und erscheint zugleich in der Zeitschrift für deutsche Adelsforschung in gedruckter Form. Annotationen:
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