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Erinnerungsgemeinschaftsbildung des ehemals schlesischen AdelsUntersuchung zur Zeit ab 1945 mit der Methode der Oral HistoryÜber den schlesischen Adel und seine besonders als traditionell verstandene „Schollenbindung“ hieß es im Jahre 1924 seitens einer deutsch-österreichischen Sportzeitung: „Wer aus Gegenden mit überwiegend bäuerlichem Grundbesitz nach Schlesien kommt und dessen Fluren nach verschiedenen Richtungen hin durchschweift, dem fällt im Gegensatz zu jenen häufig die große Ausdehnung der Feldfluren auf; hat er außerdem noch ein durch Erfahrungen geschärftes Auge für die Art der Bebauung und die Ausnützung aller modernen Erfindungen im Dienste der Landwirtschaft, so wird er auch aus alledem auf das Vorhandensein eines gewaltigen Großgrundbesitzes innerhalb der geschichtlichen Grenzen des jetzt leider so arg zerstückelten Gesamtschlesiens schließen. Verfolgt man die Verteilung von Grund und Boden auf einer Karte, so zeigt sich uns das rechte Oderufer als das klassische Land des Großgrundbesitzes, von Oberschlesien aus bis in die Kreise Militsch, Groß-Wartenberg und Öls des Regierungsbezirkes Breslau hinein. Eine zweite Zone bilden die Großbesitze auf der linken Oderseite, die sich hauptsächlich auf dem Boden der niederschlesisch-lausitzer Heidelandschaft und dem Falkenberger Waldlande sowie zwischen diesen beiden im Schlesischen Gebirge entwickelt haben. Schon dieser flüchtige Überblick läßt erkennen, daß zwischen dem heutigen Waldbestande, dem Reste des wegen seiner geringeren Güte nicht gerodeten Landes, und der Bildung unseres Großgrundbesitzes ein enger Zusammenhang besteht. Ein bedeutender Teil davon ist in staatlichem Besitz; fragt man aber nach den Namen der übrigen Besitzer, so erhalten wir eine lange Reihe ad[e]liger Namen verschiedensten Klanges und verschiedenster Herkunft. Slawische, deutsche, französische, italienische Namen tönen uns entgegen, deren Träger zum Teil auf eine längere Ahnenreihe innerhalb der schlesischen Grenzen zurückblicken können. Schlesien ist seiner Natur nach ein Grenzland, das zeigt sich auch in der Zusammensetzung seines landsässigen Adels, Nord und Süd, Ost und West haben an ihm Anteil, und auch in ihm spiegelt sich in klaren Zügen die Strittigkeit des schlesischen Bodens zwischen Deutschtum und Slawentum, zwischen den einst um die Vorherrschaft in Deutschland ringenden Großmächten Preußen und Österreich. Nicht als ob diese Gegensätze heute noch vorhanden wären; sehen wir von dem Sprossen eines im 17. Jahrhundert in den Reichsgrafenstand erhobenen rein deutschen Geschlechtes ab, der in den letzten Jahren mit fliegenden Fahnen in das polnische Lager übergegangen ist, so eignet dem schlesischen Adel neben seinem aus der geschichtlichen Entwicklung begründeten Standesgefühl die treudeutsche Gesinnung, mit der er auch im Weltkriege dem großen Vaterlande sein Blutopfer gebracht hat.“ [1] Diese „Meistererzählung“ aus der Nachkriegszeit des ersten Weltkrieges, einerseits an der Humandifferenzierung „Adel“, andererseits an der der „Nation“ anknüpfend, kennzeichnete sich vor allem durch die Behauptung von Homogenität und Verwurzelung im Boden. Da dies über Jahrhunderte so wahrgenommen worden ist, war es kaum vorstellbar, daß dieser Konnex einmal aufgehoben werden könnte. Und dennoch kam es dazu mit dem zweiten Weltkrieg und seinen Folgen. Wie aber sah die Welt der Erinnerungsgemeinschaftsbildung namens „der Adel“ aus, der zwar aus Schlesien stammte, dann aber, nach Flucht und Vertreibung, „im Westen“ lebte? [2] Der niederbayerische Historiker Simon Donig hat dazu nun eine umfangreiche Studie mit dem fragenden Titel „Adel ohne Land – Land ohne Adel?“ vorgelegt. [3] Das Werk, das teils auch entsprechend bebildert ist (wobei die Bildunterschriften stets eine wissenschaftliche Färbung haben und nicht allein deskriptiv und als Illustration dienen), hat zwei Besonderheiten. Erstens nutzt sie die aus den Sozialwissenschaften kommende Interviewtechnik der Oral History, die lebende Zeitzeug*innen als Quelle heranzieht. [4] Es ist dies eine äußert aufwendige Methode, besonders wertvoll sind aber auch die Erkenntnisse daraus und die anonymisierten Aussagen der Betroffenen, die als bald versiegende Geschichtsquelle hier unter dem Stern der Erfahrungs-, Wahrnehmungs- und erinnerungspolitischen Geschichte konserviert worden sind. Donig folgt damit (unbewußt) einigen anderen Adelsstudien ähnlicher Art, so unter anderem der von Mansfield. [5] Fernerhin erweist sich Donig als Anhänger eines in neuerer Zeit beobachtbaren breiteren Trends, das Thema „Adel“ auch nach seinem staatsrechtlichen Ende 1918/19 forschend zu betrachten und durch performative Schriftvollzüge aufzuwerten. [6] Hieraus erwuchsen indes äußert wertvolle und nun konservierte Erinnerungen und Selbstsichten, die keine andere Quelle bereithalten kann, so zu allen Lebensbereichen, besonders aber auch zu traumatischen Verlusterfahrungen, -verarbeitungen, psychischen und resilienten Bewältigungsstrategien infolge von Flucht und Vertreibung. Die zweite Besonderheit besteht darin, daß Donig den Blick jenseits der OderNeiße-Grenze schweifen läßt und danach fragt, wie unterschiedlich man gesellschaftlich ebenso wie staatlicherseits mit dem adeligen baulich-artefaktischen Erbe und der Deutung des Adels in zeitgenössischen Diskursen in Polen umgegangen ist. Damit folgte Donig neueren ähnlichen Studien, die derzeit mehrfach angestellt worden sind. [7] Auch hat er einen großen Anteil seiner Archivquellen aus polnischen Archiven geschöpft. Dieser Ansatz „Adel ohne Land“ und zugleich „Land ohne Adel“ zu analysieren, besticht indes und macht den besonderen Reiz der Dissertation aus, da der binationale Zugriff hier Perspektiven eröffnet, die in der Adelsforschung bisher eher unüblich waren. Der Zeitgeschichtshistoriker und Politologe Simon Donig, der mit dieser Arbeit im Sommersemester 2019 an der Universität Passau promoviert worden ist, [8] und der mittlerweile am „Lehrstuhl für Digital Humanities“ der gleichen Universität tätig ist, hat mit seiner dichten Studie und Beschreibung, eng am Selbstempfinden der Untersuchungsgruppenbildung arbeitend, ein wichtiges Werk geschaffen, das wegen seiner hybriden Anlage, die unterschiedliche Entwicklung von Land und Adelserinnerungsgemeinschaftsbildung nachzuzeichnen versucht, als innovativ gelten darf. Dabei hat er auch Tabuthemen in den Interviews nicht ausgespart, so das Verhältnis der ehemaligen Adelsfamilien zum Nationalsozialismus und zu den Zwangsarbeitenden, aber auch traumatische Erfahrungen von Vergewaltigung und Zerstörung, bei der Artefakte und Menschen „Opfer“ negativer Stereotype „des Adels“ wurden. Minutiös nachgezeichnet werden außerdem, beruhend auf 35 zwischen 2011 und 2013 geführten Interviews (Seite 515-516), die gescheiterten und geglückten wirtschaftlichen Neuanfänge, die Erinnerungspolitik der Betroffenen, die Bedeutung von personalen Netzwerken, Freundeskreisen und der Jagdbetätigung. Donig kommt dann zu dem Schluß, daß die meisten Adelsfamilien radikal expropriiert worden seien, ihre Liminalität sie in ein völlig neues Nachkriegsleben geworfen habe. [9] Kulturelle Einflüsse hätten Heiratsverhalten und Berufswahl verändert, andererseits seien adelige Habitusmerkmale (z.B. die Jagdaffinität oder Manieren) dennoch erhalten geblieben (Seite 500). Der schlesische Adel, so Donig, könne weiters als Diaspora mit spezifischer ihn von der Mehrheitsgesellschaft des 21. Jahrhunderts getrennter Tradierungsbildung verstanden werden (Seite 502-503). Seine Studie hat die erweitere Forschung über die Adelsgruppenbildung nach 1945 wichtige Beiträge geliefert und ist ein Zeichen dafür, daß sich diese Richtung der Forschung weiter etabliert. Bei einigen kleineren Zuschreibungen seinerseits können indes Zweifel nicht ganz unterdrückt werden. So bezeichnet Donig eine ablehnende Adelshaltung innerhalb eines einflußreichen polnischen Historienromans, der auch auf das Realleben der polnischen Gesellschaft und ihren Umgang mit baulichen Adelszeugen nach 1945 Auswirkungen gehabt habe, als eine Form der „Exotisierung“ (Seite 424). Da im Exotisierten aber Faszination mitschwingt, was auch Donig zugibt, scheint der Begriff nicht angebracht, denn Donig selbst nennt dann gar keine Belege für eine wie auch immer geartete Faszination am exotisierten Adel. Im Gegenteil gibt er im Unterkaptiel „Exotisierung“ nur negative Stereotpye des Adels wider, zu denen „Langeweile“ und sexuelle Ausschweifungen gehören würden (Seiten 424-426). Es erscheint daher angesichts dieses von Donig selbst geschilderten – rein negativen – Befundes sinnvoller, die literarische Technik des Romans eher als „Othering“ oder „Veranderung“ denn als „Exotisierung“ zu bezeichnen. [10] Fast nebenbei jedoch hat Donig an anderer Stelle und in anderem Kontext auf einen Umstand hingewiesen, der ihm (bedauerlicherweise noch) erklärungsbedürftig erscheint und nichts weniger als einen schon im Vollzug begriffenen „nobility turn“ bedeutet. Donigs Ausführungen dazu lauten: „Adel […] ist […] nach […] 1918 wie jede Gruppenzugehörigkeit an erster Stelle eine Selbstbeschreibung sowie eine Differenzerfahrung beziehungsweise eine Differenzzuschreibung“ (Seite 13). Hierzu seien einige Annotationen erlaubt. Zunächst verwirrt der Satz, da hier nur eine „erste Stelle“, aber dann keine zweite Stelle“ erwähnt wird. Die Erwartungen der Lesenden, es würde nun ein offenbar angekündigtes mehrteiliges Konzept erläutert werden, wird daher enttäuscht; es bleibt bei der „ersten Stelle“. Gleichwohl ist der Ansatz bahnbrechend, benützt Donig doch das Konzept „un/doing nobility“, [11] das er zwar nicht kennt, aber unbewußt selbst, wenn auch nur in Ansätzen, entwickelt hat. Damit vollzieht er den Schritt von einer herkömmlichen strukturalistischen Perspektive (Adel ist eine Gruppe) hin zu einer konstruktivistischen Sicht (Adel wird als fluide Gruppenbildung gemacht). Merkwürdig indes bleibt, auch bei Donig leider unerklärt, wieso diese Definition von Adel genau ab dem Scheidejahr 1918 gelten sollte und nicht auch für Zeit davor. Diese Sichtweise eine klaren zeitlichen Schnitts mit der Novemberrevolution kann man nur ernst meinen, wenn man allein eine staatsrechtliche Stellung des Adels in den Vordergrund stellt und andere Adelsseinsweisen ausblendet. Für Donig ist dies eigentlich irrelevant, da er die Zeit um 1918 gar nicht untersucht. Dennoch notiert er, der im Übrigen den Begriff und das Konzept von „Adeligkeit“ teils ablehnt (Seite 21) und teils befürwortet (Seiten 25, 221), an anderer Stelle weitere wegweisende Erkenntnisse. Denn er ist der Auffassung, daß „neben Selbststilisierungen und bewusst [sic!] oder unbewusst [sic!] im Laufe unserer Sozialisation erworbenen Habitusformen gerade auch Zuschreibungen und Erwartungshaltungen unserer sozialen Umgebung einen Einfluss [sic!] darauf haben, wer wir sind und sein können […] Soziale Unterschiede und Hierarchisierungen sind auch deshalb eine Ko-Produktion der umgebenden Gesellschaft und der durch Erwartungen und Zuschreibungen positiv oder negativ herausgehobenen Individuen oder Gruppen.“ (Seite 297). In diesem Zusammenhang wenig verwunderlich ist zudem die selbstsichere Distanzierung der Gruppenbildung [12] des Adels von der These, daß nicht allein sie selbst für die Adelsexistenz nötig wären; so stellte Donig eben auch fest: „Wohl aber wollte längst nicht jeder Mensch [der Interviewten] etwas mit in der Gesamtgesellschaft charakteristischerweise dem Adel zugeschriebenen Praktiken, Werthaltungen und Sprechweisen zu tun haben“(Seite 500). [13] Das ist aus Sicht der Betroffenen verständlich, denn Etablierte waren, so Norbert Elias, stets bestrebt, ihren hervorgehobenen sozialen Status beim Kampf um materielle oder immaterielle Ressourcen zu verteidigen, [14] auch wenn dies um den Preis der Verdrängung gegenüber den Konstruktionsprinzipien des Sozialen stattfinden mußte. [15] Diese Rezension stammt von Dr. phil. Claus Heinrich Bill, M.A., M.A., B.A., erscheint zugleich in der institutseigenen Zeitschrift für deutsche Adelsforschung und wurde im Jänner 2020 verfertigt. Annotationen:
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