Institut Deutsche Adelsforschung
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Neues Diskurs-Lexikon für die interdisziplinäre Forschung

Besprechung des bei Suhrkamp 2014 erschienenen neuen Wörterbuchs 

Im Jahre 1859 erschien in einer humoristischen österreichischen Zeitschrift folgende Glosse, die zwei wichtige Diskurse der damaligen europäischen Gegenwartsgesellschaft zur Mitte des „langen XIX. Jahrhunderts“ als einer Formierungszeit der Moderne abbildete: „Im Kaffeehaus Wallauer haben zwei Herren über Civilisation g´stritten, - der Eine hat behauptet, Frankreich habe bereits die höchste Stufe der Civilisation erreicht. Der Andre hat g´sagt, so lange die Männer noch Stöcke tragen, Tabak rauchen und schnupfen, so lang die Damen in Krinolinen einhersteigen, so lang Gänse mit Gewalt geschoppt und Krebsen lebendig gesotten werden, kann von einer wahren Civilisation nit die Red sein. - Das hat was für sich! Lassen wir die Krebsen und die Gänse und befassen uns nur mit den Herren und Damen. I glaub, es wird der Civilisation keinen Eintrag thun, wenn ein civilisirter Mensch einen Stock tragt, schnupft oder raucht, nur soll der civilisirte Mensch nit so mit dem Stock herumfuchteln, daß er alle Leut ins Gesicht schlagt, nit so Tabak rauchen, daß den Damen neben seiner übel wird, und die brennenden Zigarrenreste und Fidibus nit mitten unter den Leuten wegwerfen. - Was die Krinolinen anbelangt, so geb´i den Kampf auf, - s´is doch umsonst, - wir müssen warten. Was die Mode aufgebracht hat, das wird die Mode auch wieder abbringen.“ [1]

Was hier verhandelt wurde, war nichts anderes als ein historisches und multifaktorielles Diskursfeld, welches die bürgerliche Geschlechtermode ebenso wie den Tierverzehr zu Nahrungszwecken satirisch ausleuchtete. Weiter in die Tiefe gehend könnte man sagen, daß es sich bei dem angerissenen Diskursfeld um eine sozialkonstruktivistische Figur handelt, weil über Modeattribute nicht nur Geschlechterrollen zugleich ontoformativ abgebildet und erzeugt wurden, sondern auch, weil Stock und Krinoline um 1860 im europäischen Raum als ein soziales Distinktionsmittel des aufstrebenden Bürgertums gegenüber anderen (vor allem „niedrigeren“) Schichten oder Klassen genutzt wurden. Stock und Krinoline waren also mithin semiotische Accessoires der bürgerlichen Herren und Damen, sie wiesen zugleich rollengeschlechtliche Heteronormativität zu und waren ein Mittel des Prestiges ebenso wie der nonverbalen Kommunikation und des sozialen Kapitals, über das jemand verfügte. Die genannten Erkenntnisse, hier nur exemplarisch und sehr holzschnittartig analysiert, sind eine Erkenntnis, die vor allem Kant („Die Erkenntnis macht die Dinge, nicht die Dinge die Erkenntnis“) und Foucault zu verdanken sind. 

Denn nachdem Michel Foucualt (1926-1984) die Diskursanalyse formuliert hatte, hat diese weite Verbreitung in den Geisteswissenschaften gefunden. Dies ist nicht weiter verwunderlich, wenn man bedenkt, daß ihre „Erfindung“ in die Zeit der Dekonstruktion „des Gegebenen“ fällt, also in eine Zeit größeren Bewußtseins für Konstruktionsvorgänge durch sprachliche Mittel. Sprache ist eben nicht mehr nur - dieser Auffassung nach - ein Mittel zur Abbildung von gegebenen Entitäten, Umständen oder Verhältnissen, sondern auch ebenso ein Mittel, um transaktional oder ontoformativ Wirklichkeiten per Sprache erst zu erschaffen. Entsprechend spielt das Verhältnis zwischen Realität und Beschreibung im Diskurs eine große Rolle. Foucaults Grundidee einer Analyse von Diskursen, seither oft und häufig im Sinne eines „lingustic turns“ genutzt, ist mittlerweile jedoch von vielen weiteren Forschenden sukzessive erweitert und detailliert fortgeführt worden. 

Die Fülle der Ansätze ist unübersichtlich geworden, haben sich doch für bestimmte Fachdisziplinen der Geisteswissenschaften schon je spezielle Herangehensweisen entwickelt, um Diskurse zu untersuchen. Das nun erschienene „DiskursNetz - Wörterbuch der interdiziplinären Diskursforschung“ gibt erstmals auf 569 Seiten einen Überblick über diese verschiedenen Ansätze und Ausformulierungen. Entstanden aus dem gleichnamigen 2006-/07 begründeten DFG-Netzwerkprojekt „DiskursNetz“ ist das nun gedruckt vorliegende Werk ein Ergebnis eines Online-Wörterbuchprojektes, an dem über 100 Autor*innen ab 2008 mitgeschrieben haben, bevor die 554 Einträge einem Peer Review unterzogen wurden, um sie anschließend in das gedruckte Wörterbuch aufzunehmen. 

Mit dem Wörterbuch steht daher ein bedeutendes kollektives Cloudwerkzeug von fünf Herausgebern (die eigener Aussage zufolge auch alle gern bei Zitaten genannt werden möchten) zur Verfügung, das erstmals auch zitierfähig für wissenschaftliche Forschungen ist. Es hilft nicht nur fachfremde Begriffe in der breiten Diskursdiskussion zu definieren, sondern aus dem Wörterbuch heraus auch mit ihnen in dem eigenen Fachgebiet zu arbeiten, z.B. in der Psychologie, Geschichtswissenschaft, Soziologie, Philosophie, Politik-, Kultur-, Medien- oder Sprachwissenschaft. Das Werk, erschienen als schwarz broschiertes Taschenbuch im Berliner Suhrkampverlag für 22 Euro, ist damit neuen digitalen Arbeitstechniken zu verdanken, daher eine aus den Fachdisziplinen heraus für andere Fachdisziplinen entwickelte Sammlung nützlicher Definitionen und Anregungen, die teils hochaktuell sind und auch neue Forschungsrichtungen aufführen wie z.B. die Geosemiotik, den Bilddiskurs, das Turn-taking oder den Online-Diskurs. 

Offenbar nicht verzichten wollten die Herausgebenden auf einen Nihilartikel, wie er ähnlich seit vielen Auflagen auch im Psychrembel mit der Loriotschen Steinlaus vorhanden ist; hier heißt er „Diskursbanane“. Entlarvbar ist er spätestens bei der erfundenen Literaturangabe „Banana/Split 2012: 234“ und dem Autor „Jams Bond“. 

Dennoch gilt namentlich für die Historiographie: In Anbetracht dessen, daß vor allem historische und gesellschaftliche Prozesse über Text abgebildet und vermittelt werden, sollte die Diskursanalyse (wie sie auch hervorragend für Historiker*nnen bei Achim Landwehr unter dem Titel „Historische Diskursanalyse“ 2009 beschrieben worden ist), als eine Art „Basic Theory“ gelten. Das vorliegend erschienene Wörterbuch ist dafür ein überaus geeignetes Werkzeug, das zudem den neuesten Forschungsstand aus einem Projekt einer kontrollierten Schwarmintelligenz heraus repräsentiert und zusammen faßt. 

Und natürlich findet man ihn ihm auch die Lemmata, die am Beginn der Rezension bei der Grobdiskursanalyse von Stock und Krinoline im XIX. Jahrhundert Verwendung fanden, mithin den Sozialkonstruktivismus, den Diskurs, die Figur, das Soziale und die nonverbale Kommunikation, daneben aber viele weitere nützliche Erläuterungen zu den im diskursiven Feld anwendbaren Methoden, Begriffen und Theorien.

Diese Rezension erscheint ebenso gedruckt in der Zeitschrift für deutsche Adelsforschung und stammt von Claus Heinrich Bill, B.A.

Annotation:[1] = Hans Jörgel: Erster Brief, in: Hans Jörgel von Gumpoldskirchen (Wien), Jahrgang XXVIII., Heft 39 vom 26. September 1859, Seite 6


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