Institut Deutsche Adelsforschung
Gegründet 1993
Online seit 1998

Start | Sitemap | Tipps | Anfragen | Publikationen | Neues | Über uns | AGB | Impressum

Büttners Einführung in die frühneuzeitliche Bildersprache

Eine Anleitung zur ikonographischen Interpretation

Im Jahre 1784, noch im Ancien Régime, veröffentlichte ein Anonymus eine Notiz zu einem neuen Altarbild in Warschau. Hierüber verlautbarte eine Wiener Zeitung im Mai desselben Jahres: 

„Am 7ten April wurde in der Kirche der evangelischen Gemeinde zu Warschau das von einem jungen Künstler, Herrn Gottlieb Schiffer, einem gebohrnen Zittauer, auf Anordnung der Gemeinde verfertigte Altarbild in dem Altar befestigt. Dieser Mann, der es für Pflicht hält, zu gestehen, daß er seine Fähigkeiten dem würdigen Herrn Schönau Professor bey der churfürstlich sächsischen Akademie zu danken habe, hat durch dieses Altarbild, welches ihm ausserordentliche Ehre macht und von allen Kennern sehr bewundert wird, bewiesen, daß ein Landschaftsmaler zugleich in Figuren stark seyn kann. Das Gemäld [sic!] stellet Christum am Ölberge vor. Christus wird darinn als von Ohnmacht, und innern Schmerz hingesunken, präsentirt. Seine Miene ist die leidende Geduld. Jeder Zug seines Gesichts, jede [sic!] Muskel ist des erhabenen Gegenstandes würdig, welchen sie schildert. 

Die rechte Hand, welche von einem Stein herabhängt, ist besonders schön; Draperie und Gewand ist dem ganzen Körper und allen Gliedmassen vollkommen angemessen. Der Engel, welcher hinter Christo kniet, und ihn mit seinen Armen unterstützet, wird sehr bewundert. Die beängstigte Miene in seinen Gesichtszügen, Kolorit, und Umriß wird so geschätzt als der ernste Ausdruck in der Miene des Engels, der mit dem hellsten Glanze umgeben, den stärkenden Kelch vom Himmel bringt, ihn Christo darreicht und mit der rechten Hand den Ort anzeiget, von welchen [sic!] er herabgestiegen. 

Die Landschaft ist schön und zeiget die schlafenden Jünger am Fuße des Berges an, auf welchem sich ein in vollem Flor lebender Ölbaum besonders auszeichnet. Das saubere Kololrit, der geschmolzene Pinsel, und die feine Übereinstimmung der Farben machet diesem jungen Künstler, seinem Vaterlande und seinem großmüthigen Beförderer Ehre und erreget bey dem Publikum den Wunsch, mehrere dergleichen lobwürdige Meisterwerke von seiner Hand zu sehen.“ [1]

Die hier anonym aufgezeigten Grundgedanken des Altarbildes waren typisch für ihre Zeit. Sie waren eine kirchliche Bildniserinnerung an den Leidensweg Christi, wie er in vielen Prozessionszügen nachempfunden wird, aber eben auch in der Kunst, der Malerei und der Skulpturkunst, für die Gläubigen wachgehalten wurde. Dabei handelten Maler und Bildhauer zumeist nach Grundgesetzen einer nonverbalen Artefaktensprache, die nunmehr Nils Büttner in seiner neu erschienenen „Einführung in die frühneuzeitliche Ikonographie“ (Verlag der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt 2014, 160 Seiten, Preis: 17,95 Euro) entschlüsselt. Das hier vorzustellende Werk des Kunsthistorikers Büttner öffnet für Studierende ebenso wie Fachleute anderer Disziplinen, namentlich der Historiographie, den Blick für ein heute oft verloren gegangenes Kontextualisierungswissen der besonderen Art. Er macht darauf aufmerksam, daß derartige Altarbilder — wie das vorbeschriebene Bild zu Warschau — Teil einer Frömmigkeitspraxis seien, die als visuelle Predigt anzusehen wäre.  Derlei Kunstwerke würden zudem oft den Grundgesetzen der antiken Rhetorik folgen, also Exordium, Narratio, Argumentatio und Peroratio enthalten. [2] 

Ganz allgemein schafft Büttner also mit seinem Buch eine Rückgriffsmöglichkeit auf nicht mehr immer geläufige Verknüpfungen zwischen Kunst und sakraler ebenso wie profaner Weltanschauung. Denn für die Altarbildkunst galt in der Frühneuzeit dieselbe Idealistik wie für die Rhetorik; sie wollte die Zuhörenden und Zusehenden a) erfreuen, b) informieren und c) innerlich berühren, wollte als Gesamtkonzept alle vier Arte der Lusterlebens nach Hausmanninger (Kritik der medienethischen Vernunft. Die ethische Dikussion über den Film in Deutschland im 20. Jahrhundert, München 1992, Seite 554) — die Delecatio sensibilis (durch das Sehen), die Delectatio emotionalis (durch die beim Betrachten entstehenden Gefühle des Mitleids mit Christus), die Delectatio cognitionis (die Erkenntnis der eigenen seelischen Abhängigkeit von Christi Erlösung) und die Delectatio reflexiva (die Frage nach der Selbstvergewisserung als irdisches Wesen und nach dem Sinn des eigenen Lebens) — ansprechen.

Büttner hat diese und andere Zusammenhänge der Bildniskunst für die Zeit zwischen dem Columbian Exchange und der Französischen Revolution gekonnt zusammengetragen, referiert mit zahlreichen Beispielen, die er auch in 40 schwarzweißen Abbildungen vorstellt, sprechende Bilder, die Bedeutung der Rhetorik, das Verhältnis zwischen Text und Bild, erläutert Grundsätze bei Hieroglyphendarstellungen, von der Anlage von Impresen, Emblemen und Allegoresen. Er zeigt auf, wie sehr frühneuzeitliche (freilich stillschweigend nur europäische) Werke, die immer noch stark geprägt waren vom Christentum und von gewissen Erziehungsfundamenten, als Kunst und Mittel der Volks- wie Frömmigkeitspädagogik eingesetzt wurden. Büttner erreicht es damit, eine umfassendere Perspektive auf ein geradezu frühneuzeitlich und holistischeres Verständnis von Kunst offenzulegen. Er bewegt sich damit weit über eine rein deskriptive Kunstwissenschaft oder auch die bloße Einordnung von Kunstwerken anhand bestimmter Merkmale in Kunstepochen hinaus, indem er versucht, nachzuzeichnen, in welchen Kontexten die damaligen Werke entstanden. Büttner lehrt damit Werke neu zu sehen, um eben jene vier Delectatioformen (wieder) zu entdecken. 

Allerdings muß dennoch gefragt werden, ob denn diese Sinnhaftigkeiten und -hinterlegungen in jedem Falle schon damals von Künstlern oder Auftraggebern intendiert waren oder ob sie lediglich eine heutige wissenschaftliche Interpretationspossibilität darstellen. Denn in aller Regel lassen sich, abgesehen von Fundamentalwerken der Kunsttheorie, wie exempelhaft hier Leon Battista Albertis Werke über Malerei, Architektur und Bildhauerei aus dem XV. Jahrhundert zu nennen wären, nur indirekt Zusammenhänge konstatieren. 

Künstler haben dieses Wissen um die Bildnissprache vermutlich zwar als „Kinder ihrer Zeit“ internalisiert, ob und inwiefern sie aber tatsächlich bei jedem einzelnen Werk diese Grundsätze bewußt umbesetzt haben, ist meist nicht mehr klärbar, wenn keine entsprechenden Auftragsniederschriften oder Egodokumente eingesehen werden können (was namentlich für die Frühneuzeit schwierig ist). 

Auch wenn diese Unsicherheit letztlich nicht ausgeräumt werden kann, so ist Büttners Einführung für alle, die sich mit frühneuzeitlichen Bildwerken befassen,doch sehr empfehlenswert, zumal sie lehrt, den Blickwinkel erheblich zu erweitern und zumindest den Versuch eines sinnhaften und probalistischen Verstehens auf breiter Basis zu ermöglichen. Daß Büttner dabei auch die Architektur mit zahlreichen Bespielen anführt, gibt dem Werk einen zusätzlichen Reiz und Nutzen. Denn aus der eher ganzheitlichen Sicht von Kunst bedeutet dies, daß eben nicht nur die Malerei, sondern eben auch alle anderen Künste der Frühneuzeit diesen Grundlinien unterlagen, auch die von Büttner vorgestellten und analysierten Tapisserien, Gobelins, Silberkunstwerke, Wandfliesen, Wasserkünste, Gebäude oder Deckenfresken. Zumindest eröffent Büttner ein ganzes Kaleidoskop ergänzender Perspektiven — und dies zu einem sehr mäßigen Preis. Damit hält der hessische WBG-Verlag in bewährter Weise in seiner Einführungs-Reihe auch diesmal wieder das, was er verspricht. Geboten wird der aktuelle Forschungsstand mit Basiswissen in Theorie und Praxis, wobei das auf das Wesentliche kondensierte Werk sowohl für die Prüfungsvorbereitung in Bachelor- als auch in Masterstudiengängen geeignet ist. [3] Und nicht zuletzt läßt sich damit auch in vertieftes Verständnis des Warschauer Altarbildes gewinnen, welches am Anfang beschrieben wurde.

Diese Rezension erscheint ebenso gedruckt in der Zeitschrift für deutsche Adelsforschung und stammt von Claus Heinrich Bill, B.A.

Annotationen: 

  • [1] = Nomen Nescio: Ein prächtiges Altarbild. Produkt eines jungen deutschen Meisters in Warschau, in: Provinzialnachrichten aus den Kaiserl. Königl. Staaten (Wien), Ausgabe Nr. 41 vom 22. May 1784, Seite 652-653
  • [2] = Büttner bringt hierzu das Beispiel des Altarbildes der Kreuzesaufrichtung von Peter Paul Rubens (von 1611), erläutert auch die ersten vier der vier rhetorischen Formen, läßt aber leider die Peroratio dann doch unverständlicherweise aus (Seite 101-103).
  • [3] = Auf der Rückseite des Buches findet sich verlagsseitig der Text: „Büttner ist Inhaber des Lehrstuhls für Mittlere und Neuere Kunstgeschichte an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart. Schwerpunkte seiner wissenschaftlichen Arbeit sind die deutsche und niederländische Kunst- und Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit sowie die Geschichte von Graphik und Buchillustration.“ Derselbe Text findet sich bei dem Portal Wikipedia („http://de.wikipedia.org/wiki/Nils_B%C3%BCttner“ gemäß Abruf vom 05. Januar 2015). Wer hier indes von wem plagiiert hat, ist unentschieden.

©  Institut Deutsche Adelsforschung - Quellenvermittlung für Wissenschaft, Familienforschung, Ahnenforschung | Seitenanfang