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Neue Dokumentensammlung zu historischen sozialen RandgruppenRezension des 2013 im Essener Klartextverlag erschienenen SammelbandesIm Jahre 1851 erschien in einer Zeitung ein Artikel über ein apozyklisch betrachtetes Feindbild, in welchem eine Menschengruppe durch Anwendung bestimmter Diskursfiguren diskriminiert wurde, weil sie nicht dem bürgerlichen Arbeitsethos der Herausgebenden der Zeitung entsprachen: „Ein Volk, räthselhaft in seinem Ursprunge, roh in seinen Sitten, unzugänglich für jede Kultur, unempfänglich für jede Religion, hat nach vielhundertjähriger Rast wieder den Wanderstab ergriffen, um sich aus dem Bereiche der modernen Gesetzgebung zu flüchten und eine neue Heimath zu suchen. Wir meinen die Zigeuner. - Aufgeschreckt durch die Reorganisation Ungarns aus ihrem bisherigen Thierleben schwärmen sie nun hordenweise in der Monarchie umher und suchen ängstlich einen Ausweg nach irgend einem andern Lande der - Barbarei. - Ohne Führer und Profecten hat dieses Volk in wunderbarem Instinkte sein Antlitz nach Süden gerichtet und wird mit unwiderstehlicher Gewalt dahin getrieben. - Afrika und nur Afrika ist das Ziel, das jetzt die Zigeuner zu erreichen suchen, nachdem ihnen die Gens d´armerie ihr zweites Vaterland verleidet hat. Gewohnt gleich allen Höhlenbewohnern den kargen Bedarf zum Leben ohne große Anstrengung zu erwerben, sahen sie sich strenge bewacht und genöthigt in den Schranken eines, rechtlichen, arbeitsamen Volkes zu bleiben, und dieß brachte sie in eine unerhörte Aufregung und zu dem verzweiflungsvollen Entschlusse, ihre bisherigen Hütten, so wie jeden Fleck kultivirter Erde zu verlassen und ihre alte Heimath, aus der sie vor vielen Jahrhunderten von einer unbekannten Macht vertrieben wurden, wieder aufzusuchen. Es ist wirklich merkwürdig, dieses Volk jetzt im Triebe seiner Wanderung zu sehen und zu hören. Wie ein geschossenes Wild sucht es aus den Grenzgehägen des kultivirten Europa´s zu.entkommen, und dieß, mit einer Ausdauer und Befangenheit, die au den Wanderungsinstinkt der Zugvögel im Herbste erinnern. Die einzelnen Glieder, sowie die ganzen Horden reden von nichts als von der neuen Heimath, von dem Lande, aus dem sie stammen, wo es keine Grenzen - keine Pässe und keine Gensd´armen gibt - wo der Zigeuner Zigeuner bleiben darf. Die dunkelsten Traditionen von ihrer Herkunft sind nun zur wahren Geschichte geworden. Sie stammen aus Egypten, sie müssen wieder dorthin, sagen sie. Es treibt sie fort und fort nach Süden. Sie wissen nicht, wie weit der Weg zu ihrem Ziele sei, wohl aber daß ein großes Meer zwischen ihm und ihnen liegt. Sie wandern ohne Geld, ohne Pässe, nur mit dem Brandzeichen ihrer Acht auf der Stirne, ihr einziger Wegweiser ist Aldoberan am nächtlichen Himmel und ihr einziger Schrecken die - Gens d'armerie." [1] Die hier angedeuteten zeitgenössischen Diskurse aus der Formierungsphase der Moderne standen indes nicht vereinzelt da. Sie gehörten vielmehr einer ganzen Reihe von unüberschaubaren Meldungen und Diskursfiguren an, die in einer sich zunehmend polifizierten Gesellschaft in der Presse, in Literatur und Theater manifestierten und artikulierten. Aber „die Zigeuner“ waren nicht die einzige verfolgte Gruppierung der entstehenden Moderne des langen XIX. Jahrhunderts. Vielmehr zählten dazu ebenso „Lebenskünstler“ ohne feste Arbeitsstelle, Bettler und Vaganten, Artisten, Hochstapler, Betrüger, Bärenführer, Erkrankte sowie körperlich oder geistig Beinträchtigte. Diese sehr heterogenen Gruppen wurden von der Gesellschaft und ihren öffentlichkeitswirksamen Multiplikatoren, aber auch vom Staat, wegen ihrer Andersartigkeit und der „Devianz von der Normalität“ häufig pauschalisierend verunglimpft, gedemütigt, verfolgt, bestraft, mindestens aber diskursiv - wie besehen - mit Stereotypen etikettiert und ausgegrenzt. Derlei Diskurse, die sich mit Renegatismus, Marginalmanismus und Randseitertum befassen, zeichnet jetzt in beeindruckender Manier ein neuer Sammelband nach, der den Titel „Bettler und Vaganten in der Neuzeit (1500-1933)“ trägt, und der, von Beate Althammer und Christina Gerstenmayer herausgegeben, nunmehr als kommentierte Quellenedition zur Verfügung steht. Er ist im Jahre 2013 für 34,95 Euro beim Klartextverlag in Essen erschienen. Auf 682 broschurgebundenen Seiten wird hier ein ganze Kaleidoskop an 257 einzelnen Einordnungen, Gesetzestexten, Mandaten, Polizeiordnungen, Gesetzestexten, Gedichten, „Gaunerlisten“, Parlamentsdebatten oder Aktenauszügen (darunter Vernehmungsprotokolle) präsentiert, die eben nicht nur das angesprochene lange XIX. Jahrhundert, sondern die gesamte Zeit vom Columbian Exchange an bis hin zur NS-Machtübernahme im deutschen Sprachraum betreffen. Die insgesamt 257 Abschriften von Originalen zu diversen sozialen Randgruppen sind dabei sorgfältig auf ihre Repräsentativität hin ausgewählt und vor allem sachkundig kommentiert. Jeder Eintrag besteht demnach einmal aus der Wiedergabe der Texte (oder auch Bilder und Faksimiles) sowie einer jeweils kursiv gedruckten kommentierenden Einleitung zu jeder Quelle. Die ganze Sammlung zeigt sowohl Konstanz in den überlieferten Vorurteilen und Stereotypen, aber auch sich verändernde Diskursfiguren, z.B. hin zu einer Pathologisierung des Sozialen oder „Asozialen“ im XIX. Jahrhundert durch die aufkommende Wissenschaft der Medizin. Der Sammelband mit editierten Quellentexten ermöglicht auf diese Weise nicht nur einen breitgefächerten Einblick ins Thema, sondern gibt auch für eigene Forschungen konkreten Anlaß sowie zahlreiche Ausgangspunkte. Hervorgegangen ist er als „Nebenprodukt“ aus dem DFG-Sonderforschungsbereich
600 „Fremdheit und Armut. Wandel von Inklusions- und Exklusionsformen von
der Antike bis zur Gegenwart“ (www.sfb600.uni-trier.de), der zwischen
2002 und 2012 aktiv war. Auch wenn sich in dem Sammelband spezifische Schwerpunktsetzungen
in den Regionalitäten nicht verhindern ließen und von den jeweiligen
Forschungsprojekten der Mitarbeiter*Innen abhingen, so ist doch die Zahl
und Qualität der vorgestellten Quellen von besonderer Bedeutung.
Diese Sichtweisen befassen sich daher auch mit ganz aktuellen Fragen von Devianz, Armut und Überlebensstrategien prekär lebender Gesellschaftsschichten in einer kapitalistisch orientieren „longue durée“, die seit Kolumbus durch zahllose sozioökonomische Transformationen als sich entwickelnde Moderne mit all ihren Krisenerfahrungen geprägt war. Die wichtige Frage, wie jeweils verschiedene deutsche Gesellschaften und politische Systeme mit Armut und Prekariat umgingen, beantwortet der Band daher mannigfaltig als Fundgrube, nicht zuletzt mit paradigmatischen Exempeln und auch als „Steinbruch“ und Anregungsmittel z.B. für Quelleninterpretationen innerhalb studentischer Hausarbeiten in diesem soziohistorischen Bereich. Diese Rezension erscheint ebenso gedruckt in der Zeitschrift für deutsche Adelsforschung und stammt von Claus Heinrich Bill, B.A. Annotation:
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