Institut Deutsche Adelsforschung
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Interkulturalität in den Historischen Kulturwissenschaften

Vorstellung des Systems Barmeyer aus Passau

Adam v.Moltke rezensierte im Berliner Tageblatt an einem Wintertag des Jahres 1926 das Werk „An den deutschen Adel“ von Rochus Freiherr v.Rheinbaben, der darin seine ehemaligen Standesgenossen zur konstruktiven Mitarbeit an der Republik aufrief. Moltke beschrieb darin eine Eigenschaft avant la lettre, die er angesichts der Fließbandkabinette der 1920er Jahre mit mehrfacher Regierungsblockierung für unabdingbar zur politischen Gestaltung hielt. Ohne ihren Namen zu kennen, beschrieb er diese Kompetenz im sozialen wie politischen Umgang mit folgenden Worten: 

„Das Unglück der politischen Zentrifugalität, an der wir Deutschen von jeher gelitten haben und auch heute leiden, liegt zum großen Teil daran, daß wir uns gegenseitig nicht kennen und nicht kennen lernen wollen. Wir sind noch zu sehr behaftet mit der ganzen Fülle der Vorurteile, welche die Menschengruppen voneinander trennen, und sind zu leicht geneigt, eine andere Weltauffassung, sei es auf politischem, religiösem oder gesellschaftlichem Gebiet, mit den grundlegenden Charaktereigenschaften, die für den Verkehr unter gebildeten Menschen einzig maßgebend sein sollten, zu verwechseln. Gewiß soll man für seine Überzeugung einstehen und eventuell kämpfen, doch, wie überall kommt es auch hier auf das Wie an. Ist es würdig, einem anderen die Ehre streitig zu machen, ohne ihn zu kennen, nur weil er eine andere Auffassung von Welt oder Gesellschaft hat? 

Ist es für einen Menschen, der das Recht der Bildung und Anerkennung für sich in Anspruch nimmt, würdig, einen anderen lediglich deshalb als nicht gleichwertig zu betrachten, weil er Demokrat oder Sozialdemokrat, oder weil er Jude ist? Wie oft konnte man erleben, daß diese oder jene Standesgenossen aus reiner Unkenntnis heraus in ehrabschneidender Weise von einem Manne sprachen, der mit Leben und Liebe, voll und ganz dem Vaterlande, gemäß seiner Weltanschauung, diente! Nachdem er ihn kennen gelernt hatte, mußte er eingestehen, daß er sein voreiliges Urteil korrigiert habe. 

Wir müssen uns frei machen von der Diktatur der Gruppenauffassung und uns endlich zu dem entwickeln, was den Menschen erhöht, zum Ego mit eigenem Urteil und eigenem Willen. Die ersten Qualitäten hierzu sollten dem Adel innewohnen, der mit seinen edlen Traditionen das Gefühl für Wahrheit, Mut und vornehmer Gesinnung am stärksten entwickelt haben müßte. Die Geschichte zum Stillstand zu bringen, wird dem Adel nicht gelingen, wenn er sich auch mit aller Kraft an ihre forteilenden Räder hängt.“ [1]

Anspielend auf die 1926 in der Deutschen Adelsgenossenschaft als dem größten deutschen Personalverband der Erinnerungs- und Traditionsgemeinschaft des ehemaligen deutschen Adels auftretende altkonservative, monarchische und bisweilen auch die Moltkes Meinung nach unausgesprochene reaktionäre Haltung wollten Moltke ebenso wie Rheinbaben interkulturelle Kompetenz fördern und fordern. Denn es war durchaus möglich, verschiedene Weltanschauungen als „Kulturen“ oder „Subkulturen“ zu verstehen, d.h. hier in diesem Kontext als mentefaktische Ordnungs- und Sinnsysteme soziofaktischer Trägergruppen. Moltkes Anliegen war das einer enzyklischen Hermeneutik, die er dem apozyklischen (Nicht-)Verstehen der politischen Gegner als potentielle Alternative des Denkens, des Handelns und der Begegnung gegenüber stellte. Nicht Beharrung auf dem schon immer eingenommenen Standpunkte, sondern Akzeptanz der Gegebenheiten und produktive Weiterentwicklung und vor allem Zusammenarbeit in einem Third Space der Kulturbegegnung wurden von ihm gefordert.

Moltkes Anliegen der Interkulturalität avant la lettre führt mitten in die Thematik von Prof. Dr. Christoph Barmeyers hier zu besprechendem „Taschenlexikon Interkulturalität“ (erschienen im Verlag Vandenhoeck und Ruprecht in Göttingen im Jahre 2012, 176 Seiten, 14,99 Euro) hinein. Dieses kleine Büchlein umfaßt neben einem humoristischen Nihilartikel („Enthnozentrista“ als angebliche weibliche Comicfigur) rund 130 Lemmata, die Barmeyer zusammen mit einigen seinen Mitarbeitenden an der Universität Passau und mit Externen erstellt hat. Barmeyer ist seit 2008 Inhaber des Lehrstuhls für interkulturelle Kommunikation innerhalb der Philosophischen Fakultät der genannten niederbayerischen Dreiflüssestadt. Dort betreut er in der Lehre die Studierenden der gleichnamigen BA- und MA-Studiengänge „Kulturwirtschaft — International Cultural and Business Studies“, die mit ihrer Grundausrichtung zwar einem deutlich wirtschafts- und damit bedauerlicherweise stark gegenwartsbezogenen Fokus unterliegen, die aber trotzdem einige interessante Ansätze enthalten, die auch für die historischen Kulturwissenschaften fruchtbar gemacht werden können.

Die in verschiedenen Werken Barmeyers entwickelten Termini [2] hat der Passauer nun in seinem Taschenlexikon auf engstem Raum zusammen gefaßt. Der Vorteil daran ist die Komprimierung und Beschränkung auf die wesentlichen Begriffe, die im Passauer Modell interkultureller Kommunikation entwickelt worden sind. So bietet Barmeyer z.B. mit dem Passauer Drei-Ebenen-Modell (Seite 45), den vier Ebenen der schriftlichen wie mündlichen Kommunikation (Seite 151) oder den vier Strategien interkulturellen Handelns (Seite 155) sehr gute Klassifikationen an, die bei anderen Werken zur interkulturellen Kommunikation wegen unterschiedlicher Ausrichtung nicht enthalten sind, z.B. bei Yousefi oder Queis. [3] 

Dafür freilich fehlen bei Barmeyer die bewährten sieben Dimensionen interkultureller Kommunikation, wie sie sich bei Yousefi finden lassen. Barmeyer rechtfertigt dies mit der Angabe im Vorwort (Seite 6), daß er sich hauptsächlich auf Interkulturalität bei Arbeitskontexten und in Organisationen beschränken würde. Dies ist allerdings eigentlich kein Grund, weshalb man andere kulturelle Kommunikationsmodelle nicht auch berücksichtigen könnte, zumal diese auch anwendungsbezogen einsetzbar wären. Ohnehin ist es erstaunlich, daß z.B. Yousefi und Barmeyer seit einiger Zeit konsequent aneinander vorbei schreiben, obwohl beide das gleiche Forschungsthema besitzen und auch bereits seit mehreren Jahren in ihrem Fachbereich publizieren. Andererseits ist diese Vielfalt durchaus bereichernd, sie kann auch in der historischen Kulturwissenschaft durchaus gewinnbringend für eigene Methodikansätze miteinander verschränkt werden — sozusagen interkulturell. 

Pflegt man nämlich als Benützender des Barmeyerschen Taschenlexikons eine interkulturelle Hermeneutik, kann man dessen Termini gut auch für historische Kulturwissenschaft fruchtbar machen. Da sind beispielsweise die bemerkenswerten Kategorien des etwas irreführend „Strategien interkulturellen Handelns“ genannten Diagramms innerhalb des Lemma-Artikels „Interkulturelle Synergie“ (Seite 153-155). Dabei geht es um die Frage, wie sich Kultursysteme begegnen und wie kulturelle Hybridisierungen unter Einbeziehung von Machtverhältnissen stattfinden. Macht und die Verfügbarkeit von negativen wie positiven Machtverstärkern zu beachten, ist im interkulturellen Kontext ein „neues Konzept“ und vor allem bei der Analyse von historischen Hybridisierungen, bei denen selten absolut gleichberechtigte Partner*Innen beteiligt waren, sinnvoll. Doch wäre es besser, das Modell „Machtbedeutung in Hybridisierungen“ oder „Auswirkungen von Machtverhältnissen auf Hybridisierungen“ zu nennen. 

Wie wichtig der Machtfaktor in derlei historischen Verschmelzungsdiskursen ist, verdeutlicht exemplarisch ein Anonymus Ende Mai 1919 in einer deutschsprachigen Zeitung in Tirol: „Nicht durch Vererbung können Vorrechte erworben werden, sondern durch persönliche Leistungen, nicht die Verdienste der Vorfahren, sondern die eigenen Verdienste begründen die Einnahme der ersten Stellen in der Gesellschaft [...] Der Arbeit kommt ohne Zweifel der älteste Adelsbrief zu [...] `Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen.´ Da wir nun in unseren Stammeltern alle gesündigt haben, darf sich jetzt erst recht keiner von der Arbeit losmachen. Das hat selbst Gottes Sohn nicht getan [...] Wird nun jeder, der in diesem Geiste arbeitet, Christus ähnlich? Bekommt nicht jeder, der in diesem Geiste arbeitet, einen neuen Adel, den Adel der gottgewollten Arbeit?  [...] Denn nicht dem Tiere, das vor dem Karren im Joche geht, gleicht der arbeitende Mensch, sondern gottähnlich werden wir durch unsere Berufstätigkeit [...] Heutzutage gilt der Geburtsadel nicht mehr. Der Arbeitsadel wird immer seinen Wert behalten, und immer wahr wird das Wort des Dichters bleiben: `Der beste Orden, den ich weiß, ist eine Hand voll Schwielen.´“ [4]

Als diese Zeilen publiziert wurden, befand sich der deutsche wie österreichische Adel in einer kollektiv kritischen Situation, die nach Schuchardt und Adl-Amini als zweite oder ungesteuerte Phase einer Krise bezeichnet werden kann. Es war dies nicht mehr die erste Ohnmachtsphase mit Einwirkungen von außen (Revolution), aber auch noch nicht die dritte oder Ausgangsphase des wiedererlangten autopoietischen Handelns (Klärung der Rechtsstellung). [5]

Der Zeitpunkt ihrer Abfassung und Veröffentlichung lag vielmehr genau zwischen dem am 3. April 1919 in Österreich in Kraft getretenen Adelsaufhebungsgesetz und der am 11. August 1919 in Deutschland verkündeten Weimarer Reichsverfassung. Demnach wurde der Adel als Stand in Österreich mitsamt der Adelszeichen und -titel abgeschafft. In Deutschland blieben zwar trotz der Abschaffung als Stand die ehemaligen Adelszeichen und -titel als Namensbestandteile erhalten, aber auch zum Zeitpunkt des Mai 1919 war bereits erkennbar, welche Tendenz die Angelegenheit in Deutschland nehmen würde. 

Auch hier bestand nach österreichischem Vorbild die Gefahr einer Abschaffung des Adels mitsamt der Tilgung aller Zeichen und Titel auch im Namen. Und die Revolutionen hatten eine Jahrhunderte lang geübte staatsrechtliche Praxis — die der Monarchie und Adelsherrschaft — beendet, was eine Transformation vom Adel als Stand mit bestimmten Funktionen zu einer bloßen Erinnerungs-, Gesinnungs- und Traditionsgemeinschaft bewirkte. 

Es ist daher nicht verkehrt, diese Phase des Kollektivs als Krise zu bezeichnen. Der Anonymus des Zeitungsartikels nun stößt im Third space (Drittraum) als interkulturelles Interface (oder historischer Akteur) in jenes Sinn-Vakuum „des Adels“ mit reformorientierten Vorschlägen zur Wiederausfüllung des Adelsbegriffs. Seine Vorschläge waren aristokratisierend, d.h. er hielt die „Adelsidee“ als solche durchaus für aktuell und attraktiv, weshalb er sie auch für eine Hybridisierung präparierte. [6]

Diese Hybridisierung oder Verschmelzung war indes von Machtverhältnissen bestimmt, so daß nun hier Barmeyers Modell erfolgreich angewendet werden kann, da es nur wenige Modelle gibt, die Macht in interkulturellen Zusammenhängen bedenken. [7] Es kann erklären, weshalb „der Adel“ diesen Hybridisierungsversuch über sich ergehen lassen mußte. Dafür war nicht nur die Pressefreiheit verantwortlich, sondern auch die Schockstarre der Ungewißheit „des Adels“. 

So erklärt es sich, daß es sich seitens „des Adels“ um eine Anpassung handelt, seitens des Anonymus um eine Dominanz. Denn hier trat aus Sicht „des Adels“ eine „schwach“ entwickelte „Eigenkultur“ einer „stark“ entwickelten „Fremdkultur“ (nach Barmeyerschen Begriffen) entgegen, oder, aus Sicht des Anonymus, wirkte eine „stark“ entwickelte „Eigenkultur“ auf eine „schwach“ entwickelte „Fremdkultur“. Asymmetrische Machtverteilung zwischen interkulturellen Akteur*Innen kann daher entsprechend einseitige Auswirkungen haben, auch innerhalb von Hybridisierungen, die durchaus nicht immer und automatisch gleichberechtige Verknüpfungen zum Ziele haben mußten. 

In diesem Kontext wäre aber doch zu erörtern, ob die Barmeyersche Wahl der Begriffe „stark“ und „schwach“ als adjektivistische Suffixoide geeignet erscheinen. Sie werden allzuleicht wertend und nicht wertneutral konnotiert. Denn das Wort „schwach“ bedeutet laut Duden „das im Basiswort Genannte (meist etwas Positives) nur in geringem Maße besitzend“, das Wort „stark“ dagegen „das im Basiswort (das meist als etwas Positives angesehen wird) in hohem Maße habend“. [8] Die Verwendung dieser Worte stellt damit eine Verletzung des Wertenthaltungsgrundsatzes der Epoché dar. [9] 

Viel besser geeignet erscheinen dem Rezensenten die Begriffe „kohäsiv und „dispersiv“, da sie keine Wertungsgefahren beinhalten. Sie spiegeln zudem ihrem Sinn nach viel eher die Eigenschaften von Kultursystemen wider. Hierbei läßt sich hervorragend und mit Gewinn die Theorie der Gruppenkohäsion aus der Sozialpsychologie importieren, indem man Gruppen interdisziplinär als Kulturen verstehen kann. Dann ergeben sich nach Fischer folgende Komponenten einer hohen Gruppenkohäsion (linke Spalte der folgenden Tabelle), [10] aus denen sich antagonistisch dispersive Eigenschaften als Idealtypen auf einer Extremskala ableiten lassen (rechte Spalte):
 
Kohäsive Gruppen (Kulturen) Dispersive Gruppen (Kulturen)
„entwickeln rigide Normen im Hinblick auf zulässiges bzw. unzulässiges Verhalten“ entwickeln tolerante Normen im Hinblick auf zulässiges bzw. unzulässiges Verhalten
„verhalten sich gegenüber Abweichlern intolerant“
(niedrige Ambiguitätstoleranz)
verhalten sich gegenüber Abweichlern tolerant
(hohe Ambiguitätstoleranz)
„sind im allgemeinen nicht innovationsfreudig, da neue Lösungen i.d.R. von solchen Personen eingebracht werden, die als Außenseiter gelten“ sind im allgemeinen innovationsfreudig, da neue Lösungen von allen gleichberechtigen Mitgliedern eingrebracht werden können.
„senken die Individualität, Selbständigkeit und Eigenverantwortlichkeit der Mitglieder“ stärken die Individualität, Selbständigkeit und Eigenverantwortlichkeit der Mitglieder
„entwickeln Abschottungstendenzen nach außen.  Die Binnenkohäsion geht dabei zu Lasten der externen Integration“ entwickeln Willkommenskulturen nach außen.  Die Binnenkohäsion geht dabei zu Gunsten der externen Integration
„neigen dazu, ein Feindbild für (ähnliche) Fremdgruppen zu entwickeln, die stereotyp charakterisert und abgewertet werden“ neigen dazu, Feindbilder für (ähnliche) Fremdgruppen zu hinterfragen und in enzyklischer Hermeneutik Überlappungsbereiche zu suchen 

Denn hält man an Barmeyers Formulierungen von „stark / schwach“ fest, so muß man sich nur vergegenwärtigen, wie diktatorische Systeme verfahren. Sie setzen sich mit geringer Ambigutiätstoleranz und als „starke“ Gruppe meist durch. So heißt es beispielsweise bei einem Anonymus im Jahre 1880, der sich  über die mögliche Gründung einer mit der 1874 begründeten Adelsgenossenschaft verwandten Organisation einer Standesvertretung ausläßt, pejorativ: 

„Das Verkommniß des deutschen Adels. Darüber schreibt ein Berliner Correspondent wie folgt: `Der deutsche Adel hat einen Aufruf zur Bildung einer `Adelsgesellschaft´ erlassen. Die neue Zeit rüttelt allerdings mächtig an den eingebildeten Privilegien der Vollblütigen. Prinz Wilhelm, der einstige deutsche Kaiser, wird Schwager des Professors Esmarch in Kiel; [11] in Oberschlesien hat sich eine württembergische Prinzessin in einen jungen Arzt, Dr. Willm, verliebt und hat ihn kürzlich geheirathet. Die Zahl der sog. Mesalliancen in deutschen Fürstenhäusern ist eine sehr erhebliche. Hunderte alter Adelsfamilien befruchten den alten Stammbaum mit dem Mammon von Gattinnen aus reichen bürgerlichen, besonders häufig israelitischen Familien. 

Verwahrloste Abkömmlinge von Regentenfamilien und alten Geschlechtern endigen in Siechhäusern oder in Armenanstalten, fast täglich citiren die Gerichte Sprößlinge altadeliger Familien in Steckbriefen wegen Diebstahl und Unterschlagung und ähnlicher Raubrittertugenden, eine Anzahl edler Jünglinge ist unter die vagabundirenden Komödianten oder Landstreicher gegangen, in Zuchthäusern sitzen Grafen, Freiherrn und einfache `Vons´ in Masse. 

Man denkt oft an das Wort des beredten Freiherrn Georg von Vincke: `Es gibt viele Adelige, die nicht zur Aristokratie, und viele Aristokraten, die nicht zum Adel gehören!´ Es wird vom Volke nicht vergessen, daß deutsche Herzöge und Fürsten, die Putbus, Ratibor, Ujest u. s. w. die Matadore der Gründerzeit, die Genossen von Bethel Henry Strousberg gewesen sind, und wenn sie eine Genossenschaft bildeten, so wäre der würdigste Zweck derselben, ein paar Millionen zusammen zu schießen, um die armen kleinen geprellten Bürger zu entschädigen. Was soll die ganze Adelsgenossenschaft? Das `Standesbewußtsein´ stärken! Sie sollte lieber dahin wirken, daß die Adeligen `gute Bürger´ werden." [12]

Bei diesen Zeilen wird nicht nur deutlich, daß Verbürgerlichungstendenzen im Adel einmal gutgeheißen („gute Bürger werden“), zugleich aber auch abgewertet wurden („Mesaillancen“), sondern ganz allgemein die Dominanz des Anonymus über die Deutungshoheit im Diskurs erkennbar ist, die hier performativ und ontoformativ vom Anonymus über die Textinszenierung einer Adelskritik in der Moderne ausgelebt wird. Dabei wird sogar der Antikapitalismus und -semitismus der Adelsgenossenschaft gegen "den Adel" allgemein verwendet.

Hier aber nach Barmeyer konstatieren zu wollen, daß es sich dabei um eine (dem Adel gegenüber) „starke Eigenkultur“ handeln würde, wäre apozyklisch und würde deutlich den Werturteilsenthaltung von Forschenden verletzen sowie eindeutig Stellung beziehen. Überhaupt bleibt Barmeyer merkwürdig vage, wenn es um seine eigenen Annahmen als Forschender geht. Es ist daher im Taschenlexikon eine mangelnde Selbstreflexion festzustellen. In den entsprechenden Artikeln, die sich mit den Methoden der Forschung befassen („Interkulturalist“ auf Seite 81, „Kulturrelativismus“ auf Seite 105, „Kulturvergleich“ auf Seite 113-114, „Positivismus“ auf Seite 136-138 und „Qualitative Forschungsmethoden“ auf Seite 140-141) machen die Verfasser Barmeyer und Öttl keine Angaben zur Epoché. Interkulturalität bedeutet nach Auffassung des Rezensenten aber auch interkulturell mit den untersuchten Gegenständen des eigenen Erkenntnisinteresses umzugehen und diese im Forschungsdesign als gleichwertig zu betrachten (auch wenn man privat mit der einen oder anderen Position nicht einverstanden sein sollte). Hier wäre es z.B. sinnvoll, bei interkulturellen Forschungen die Werteskalen sowohl aus der einen als auch aus der anderen Sichtweise darzustellen, wie dies z.B. bei den beiden Hofstedes in Tabellen paradigmatisch umgesetzt worden ist. [13]

Kritisch anzumerken ist bei Barmeyers Werk weiters der Artikel zum Lemma der „Hybridität“ von Sebastian Öttl (Seite 70-72). Was er dort anfangs — im zweiten Absatz — beschreibt, ist nicht etwa die Entstehung eines selbstständig zu betrachtenden Dritten, sondern lediglich die Genesis von Bikulturalität, also das Nebeneinander zweier Kultursysteme. Das ist nicht Sinn des Wortes Hybridisierung. Öttl verweist außerdem auf den interkulturellen Dreischritt bei der Erwähnung von Mikro-  und Makroebene (verweist damit auf das Lemma auf Seite 46), meint aber tatsächlich das Passauer Drei-Ebenen-Modell auf Seite 45 (der Mikro-, Maso- und Makroebene des Individuums, einer Organisation und der kulturellen Systeme). Es ist fernerhin eine Geschmacksache, ob man „das Andere“ als „das Fremde“ bezeichnen möchte, wie dies bei Barmeyer der Fall ist. Yousefi hat darauf aufmerksam gemacht, daß allein schon die Bezeichnung „das Fremde“ einer apozyklischen Hermeneutik Vorschub leistet und schlägt daher sinnvollerweise vor, „das Fremde“ in „das Andere“ umzubenennen. [14]

Zuletzt ist Barmeyer nur teilweise darin zuzustimmen, daß die Geschichtswissenschaft  seiner Meinung nach aufzeige, „dass kulturelle Systeme und Interkulturalität in Beziehung stehen zu spezifischen historischen Kontexten“ (Seite 17). Vielmehr darf die Historiographie auch historische Gegenstände interkulturell untersuchen, d.h. nicht die Beziehungen zu den Kontexten deuten, sondern die Kontexte selbst zum Gegenstand des Erkenntnisinteresses machen. [15]

Diese kritischen Annotationen sollen jedoch nicht darüber hinweg täuschen, daß Barmeyer und seine fünf Mitautor*Innen insgesamt ein gut handhabbares Werk vorgelegt haben, um das Modell der Interkulturalität nach Barmeyerscher Lesart wirkungsvoll sowohl in der kulturwissenschaftlichen Geschichtsschreibung als auch der historischen Kulturwissenschaft — ganz im Sinne des eingangs erwähnten interkulturellen Komparatisten (oder auch Interkulturalisten) avant la lettre Moltke (1926) — benutzen zu können. 

Bei aller oben bemängelten Abgrenzung, die unter interkulturellen Theoretikern (und Praktikern) derzeit stattfindet, können die Rezipierenden daraus aber auch einen Gewinn ziehen; ihnen stehen für ihre eigenen Forschungsvorhaben unterschiedliche Modelle und Forschungsdesigns zur Verfügung, aus denen sie entweder das für ihr Erkenntnisinteresse und die vorgefundene Quellenlage beste System heraussuchen können oder sich in interkulturalistischer Manier auch verschiedener Komponenten unterschiedlicher Modelle in Kombination bedienen können. Letztlich ist also die starke Diversität und Differenz der Ansätze für die Forschung fruchtbringend, fördert sie doch beabsichtigten Pluralismus und beugt einer zu autoritäten Schulauffassung vor. 

Diese Rezension erscheint ebenso gedruckt in der Zeitschrift für deutsche Adelsforschung und stammt von Claus Heinrich Bill, B.A.

Annotationen: 

  • [1] = Adam v. Moltke: An den deutschen Adel, in: Berliner Tageblatt und Handels-Zeitung (Berlin), Jahrgang LV., Abend-Ausgabe Nr. 85 vom 19. Februar 1926, Seite 1-2 
  • [2] = Zu nennen ist hier vor allem Christoph Barmeyer / Petia Genkova / Jörg Scheffer (Hg.): Interkulturelle Kommunikation und Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Wissenschaftsdisziplinen, Kulturräume, Passau 2010 (in 2. verbesserter Auflage 2011 erschienen)
  • [3] = Hamid Reza Yousefi: Interkulturelle Kommunikation — Eine praxisorientierte Einführung, Darmstadt 2014 oder bei Dietrich v.Queis: Interkulturelle Kompetenz. Praxis-Ratgeber zum Umgang mit internationalen Studierenden, Darmstadt 2009
  • [4] = Nomen Nescio: Arbeitsadel, in: Der Burggräfler (Meran), Jahrgang XXXVII., Ausgabe Nr. 43 vom 28. Mai 1919, Seite 3-4
  • [5] = Zum Schuchardtschen „Spiralphasenmodell“ siehe Bijan Adl-Amini: Krisenpädagogik, Band II., Darmstadt 2004, Seite 224
  • [6] = Beispielhaft dazu die Ansätze bei Eckart Conze / Wencke Meteling / Jörg Schuster / Jochen Strobel: Aristokratismus und Moderne 1890-1945, in: Eckart Conze / Wencke Meteling / Jörg Schuster / Jochen Strobel: Aristokratismus und Moderne. Adel als politisches und kulturelles Konzept 1890-1945, Köln / Weimar / Wien 2013, Seite 9-21
  • [7] = Eine anderes Modell mit Machtbeachtung nennt Jan Kunik: Kulturtheoretische Ansätze, in: Raj Kollmorgen / Wolfgang Merkel / Hans-Jürgen Wagener (Hg.): Handbuch Transformationsforschung, Wiesbaden 2015, Seite 111- 123. Ein anderes ganz ähnliches und im Grund identisches Modell wie das Barmeyers ist das „Modell der zwei Anliegen“, das ebenso vier Dimensionen kennt („Untätigkeit“, „Nachgeben“, „Problemlösen“, „Sichdurchsetzen“). Abgedruckt ist dies Modell bei Jürgen Deller / Dieter Frey / Ulrich Schoop: Verhandeln, in: Hans-Werner Bierhoff / Dieter Frey (Hg.): Handbuch der Sozialpsycholgie und Kommunikationspsychologie, Göttingen 2006, Seite 704. Überhaupt wäre es wünschenswert, wenn Transformations- und Interkulturalitätsforschung mehr zusammenarbeiten würden, um interdisziplinäre Synergieeffekte nutzen zu können, zumal beide Forschungsmethoden derzeit stark im allgemeinen Agenda-Setting der Forschung im Aufwind zu sein scheinen.
  • [8] = Duden. Das Bedeutungswörterbuch, Mannheim / Leipzig / Wien / Zürich 3.Auflage 2002, Seite 799 und 847
  • [9] = Dazu siehe die gleichlautenden Lemmata zur Enthaltung, Werturteilsfreiheit, Urteilsenthaltung und Suspensio a) bei Jeremy Hawthorn: Grundbegriffe moderner Literaturtheorie, Tübingen 1994, Seite 81, b) bei Joachim Ritter (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band II., Darmstadt 1972, Spalte 594-596 und c) bei Andreas Bächli / Andreas Graeser: Grundbegriffe der antiken Philosophie, Stuttgart 2000, Seite 75-76
  • [10] = Nach Lorenz Fischer: Grundlagen der Sozialpsychologie, München 2.Auflage 2002, Seite 596
  • [11] = Tatsächlich ehelichte Esmarch (1823-1908) im Jahre 1874 seine ehemalige Patientin, die Prinzessin Henriette von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg (1833-1917), ihrerseits angeheiratete Tante von Kaiser Wilhelm II. (1859-1941)
  • [12] = Anonymus: Das Verkommniß des deutschen Adels, in: Der deutsche Correspondent (Baltimore in Maryland), Jahrgang XL., Ausgabe Nr. 141 vom 11. Juni 1880, Seite 7
  • [13] = Geert Hofstede / Gert Jan Hofstede: Lokales Denken, globales Handeln. Interkulturelle Zusammenarbeit und globales Management, München 5.Auflage 2011, z.B. Seite 142, 171, 176, 185, 192,206, 277, 283 et cetera
  • [14] = Hamid Reza Yousefi / Ina Braun: Interkulturalität. Eine interdisziplinäre Einführung, Darmstadt 2011, Seite 46
  • [15] = Verwiesen seien hier auf Studien wie Hanna D. von Wolzogen / Itta Shedletzky (Hg.): Theodor Fontane und Wilhelm Wolfsohn. Eine interkulturelle Beziehung. Briefe, Dokumente, Reflexionen, Tübingen 2006. Fernerhin auf Michael Werner / Bénédicte Zimmermann: Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der Histoire croisée und die Herausforderung des Transnationalen, in: Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft, Band XXVIII., Göttingen 2002, Seite 607-636

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