|
|||||
Start | Sitemap | Tipps | Anfragen | Publikationen | Neues | Über uns | AGB | Impressum |
|||||
|
|||||
Aristokratismus als sich perpetuierendes AdelskonzeptAnwendungen der Adelsthematik in nachadeliger Zeit ab 1918 und in der HochmoderneIm Jahre 1910 erschien in einer ungarischen Zeitung eine Meldung, die eine Sensation für Lesende bedeutet haben muß; sie bezog sich unter anderem auf einen Aristokratismus. Dieser Begriff kann definiert werden als die Hereinnahme oder als Import des Wortes „Adel“ und der damit in je spezifischen Situationen, Orten und Zeiten wahrgenommenen Konnotationen in einen ursprünglich als nichtadelig aufgefaßten Kontext. [1] Die Meldung lautete in der Überschrift: „Ein Graf Apponyi heiratet eine Bürgerliche“. Schon allein der darin enthaltene und am Beginn stehende unbestimmte Artikel deutete darauf hin, daß es weniger um das Individuum ging (hier in der Schlagzeile auch nicht mit Vornamen erwähnt), sondern um eine soziale Rolle, die im Vordergrund stehen sollte. [2] Der Rollentragende hatte anscheinend eine Handlung durchgeführt, die als deviant [3] und ungewöhnlich wahrgenommen worden ist, abweichend von der in den Köpfen sozialer Umgebungen befindlichen Prototypikalität „des Adels“, die als Maßstab an das Grafenverhalten angelegt worden war. Eben deswegen, so eine hier aufzustellende These, war sie auffällig, war sie es überhaupt wert, als Meldung mit Neuigkeitswert präsentiert zu werden. Der Inhalt des Artikel lautete sodann wie folgt: „Wie die gestrigen Budapester Blätter melden, hat sich Graf Anton Apponyi jun., der Sohn des weil. Grafen Ludwig Apponyi, Hofmarschalls in Ungarn, in Brüssel mit Fräulein Eugenie Lindes aus Skt. Petersburg verlobt. Graf Anton Apponyi, der gegenwärtig im 34. Lebensjahre steht, bekleidet in Brüssel die Stelle eines Berichterstatters des k.[öniglich] ung.[arischen] Handelsministeriums und ist k. u. k. Kämmerer und Reserveleutnant des 16.Husarenregiments. Er ist einer der sympathischesten [sic!] Mitglieder der jüngeren aristokratischen Generation und mitsamt seinem um einige Jahre älteren Bruder, dem Grafen Julius Apponyi auch in Hofkreisen äußerst beliebt. Die beiden Brüder Apponyi, bildschöne Männer und hochelegante Erscheinungen, fungierten auf den Hofbällen in der Budaer Hofburg stets als Staberlherren [sic!] und Vortänzer, die mit einer Erzherzogin den Tanz eröffneten. Die Braut des Grafen Anton Apponyi entstammt einer ungemein reichen Petersburger Familie, die angeblich amerikanischer Herkunft ist und deren einzelne Mitglieder dem kleinrussischen Bauernadel angehören. Sie ist eine blonde Beaute. Der Graf machte die Bekanntschaft seiner nunmehrigen Braut in Brüssel, wo sie in Begleitung ihres Onkels längeren Aufenthalt nahm. Der Graf verliebte sich alsbald in die schöne junge Dame und lud sie zu einem Besuche seiner Familie in Ungarn ein. Fräulein Lindes, die ebenfalls von aufrichtiger Zuneigung für den jungen Magnaten erfüllt war, leistete dieser Einladung Folge. Sie wohnte mit ihrem Onkel im Grand Hotel. Der junge Graf stellte die Dame seiner Mutter und seiner Familie vor, wo sie sehr freundliche Aufnahme fand. Bei dieser Gelegenheit wurde auch ein Ausflug auf die Fother Besitzung des Schwagers des Grafen Anton Apponyi, des Grafen Ladislaus Karolyi unternommen. Nach mehrtägigem Aufenthalte in Ungarn kehrte die junge Dame mit ihrem Onkel nach Brüssel zurück und auch der Graf bezog wieder seinen dortigen Posten. Die Bekanntschaft gestaltete sich immer intimer und führte nun zur Verlobung der Liebenden. Das Brautpaar ist gegenwärtig im Radvanyer Schlosse des Grafen Ladislaus Karolyi zu Besuch.“ [4] Die in der Überschrift noch versprochene Sensation mit aufmerksamkeitserheischendem Sensations- und Nachrichtenwert ist mithin, wie in der Textverfolgung dieser Massenpresse-Meldung deutlich wurde, merklich abgeschwächt worden. So versuchte die anonym gebliebene journalistisch tätige Person die angekündigte „Unebenbürtigkeit“, „unstandesgemäße“ Heirat oder „ungleiche Ehe“ nicht etwa als Mesaillance, [5] sondern als eine willkommene Beziehung darzustellen. Dazu trug nicht nur die Betonung von Schönheit und Reichtum der Braut bei, sondern auch die aristokratisierende Bemerkung der Herkunft der Braut aus dem „Bauernadel“. Das, was sonst vielfach zu beobachten war, daß reiche „bürgerliche“ Bräute armen adeligen Männern als Ehepartner*innen willkommen waren, wurde auch hier bestätigt, zugleich noch ausgehend von der Prämisse, daß Adelige nur im eigenen Stande ehelichen sollten. Daß hier beides positiv verhandelt und wieder aufgerufen wurde, zeigt nicht zuletzt die Ambivalenz, mit der verschiedene Adelskonzepte und -ideen nebeneinander stehen konnten; typisch für eine ständische Übergangsgesellschaft, [6] die sich vor allem durch Hybridität und Amalgamierung auszeichnete. Eben jene beiden flottierenden Bereiche der Adelsforschung, die Aristokratisierung des Bauerntums als „Bauernadel“, aber auch Prototypikalität im Zusammenhang mit „dem Adel“, sind nun in einem neuen Sammelband detailliert behandelt worden. [7] Er geht zurück auf eine in Marburg an der Lahn bereits im September 2015 stattgefundene Tagung zum Thema „Aristokratismus“, beschäftigt sich mithin mit der „Wanderung“ und den Transferwegen des Adelsbegriffes und der -idee in ursprünglich nichtadelige Bereiche. [8] In diesem Band wurden durchweg innovative Wege beschritten, sowohl kleinere empirische Studien angestellt als auch theoretische Ausführungen gemacht. So ist besonders ein theoriediskutierender Beitrag hervorzuheben, der aus semantischer Sicht die Frame-Theorie vorstellt und auslotet, welche Chancen und Risiken diese für eine Begriffsbehandlung in der Adelsforschung bietet (Seite 151-182). Auch wenn das Wort „Adel“ in dem entsprechenden Aufsatz nur marginal vorkommt und dort keine Anwendung der Theorie auf „den Adel“ erfolgt, so ist dieser Beitrag doch wertvoll für künftige Studien. Abgesehen davon aber wird die Frametheorie dann in zwei Folgeaufsätzen angewendet, einmal in Bezug auf adelsbezügliche Werke des Autors Stefan George (Seite 183- 208), einmal auf den Begriff „Bauernadel“, wie er oben schon erwähnt worden ist, hier dann jedoch ausschließlich mit Bezug auf den Nationalsozialismus und insbesondere auf dessen Verwendung bei Richard Walther Darré (Seite 209-224). [9] Die in dem Sammelbande vertretenen Thesen sind insofern auch besonders wertvoll, als sie Positionen aufzeigen, die streitbar erscheinen und daher die Forschung und Auseinandersetzung anregen werden. So wird im Vorwort die Behauptung aufgestellt, der Adel habe einen „sozialen Abstieg“ erfahren (Seite 7). Diese Auffassung wird hier nicht vertreten. Gerade das soziale „Obenbleiben“, das gesellschaftliche Echo, daß der Adelsbegriff auch nach 1918 bei Rezipierenden verschiedener Couleur auslöste, der „Widerhall der Dinge“ [10], führten, so zumindest auch bislang die überwiegende Forschungsmeinung, eben nicht zu einem sozialen Niedergang, sondern einem Gefühl des Zusammenbleibens, [11] auch zum heutigen noch in der Erinnerungsgemeinschaft des historischen Adels [12] gepflegten Ansatz und Gefühl, zwar nicht nicht mehr „besser“, aber „anders“ als der Rest der Bevölkerung zu sein. [13] Zuzustimmen wäre aber wiederum der These, daß die Nobilität einen politischen Niedergang erfahren habe (Seite 10). Gerade diese Ambivalenz, der rechtliche Privilegienabbau einerseits und die nach wie vor hohe soziale Attraktivität des Adels – die „ästhetische Attraktion, die er zu jeder Zeit ausgeübt hat“ [14] – machten als „Projektionsfläche“ den Aristokratismus erst möglich, [15] entstand doch aus eben jener Melange der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ [16] eine fortwährende kreative Spannung, entstanden vielfache Anschlußmöglichkeiten transformierender Akte, wie Appropriationen, Assimilationen, Disjunktionen, Einkapselungen, Ausblendungen, Hybridisierungen, Ignorierungen, kreative Zerstörungen, Montage, Assemblagen, Negationen, ergänzende Rekonstruktionen, Substitutionen, Übersetzungen, umdeutende Inversionen oder gar mehrschichtige komplexe Transformationsprozesse. [17] Die im Band enthaltenen Beiträge spiegeln dieses kreative Potential, die Mannigfaltigkeit der verwertenden und „recycelnden“ Ansätze. Neben einer thematischen Einleitung der Marburger Herausgebenden (Seite 7-18) geht es um biologistische Adelskonzepte bei dem Siedlungsprotagonisten Willibald Hentschel (Seite 35-43), Adelstransformationen in der „Nordischen Bewegung“ (Seite 45-56), innovativ auch mittels einer historischen Bildanalyse aus literaturwissenschaftlicher Sicht um Fontanes Spätwerk „Der Stechlin“ von 1899 (Seite 57-72). [18] Dort wird in einer originellen Untersuchung das Bild der kränkelnden Aloe im Stechlin erörtert, die nur durch den zufälligen Beiwuchs des Wasserlieschs (Butomus umbellatus aus der Familie der Butomaceae) blühend sei. Hierbei wird die dickfleischige, sukkulente und stechende Aloe als „der Adel“ interpretiert, der langjährig sei und alt werde, nun aber, in der Formierungsphase der Moderne, „angekränkelt“ wäre, bedrängt werde durch neue Sozialformationen, trotzdem aber in Gelassenheit auf eine lange Ahnenreihe zurücksehe und daher den „gesellschaftlichen Beiwuchs“ (des "vierten Standes") dulde. Für gewöhnlich hätte man, so die Verfasserin des entsprechenden Aufsatzes, den Beiwuchs entfernt, [19] doch verblieb er im Pflanzkübel, um noch „mit einem kranken Stamm Staat“ zu „machen“(Seite 66-67). Diese Interpretation ist insofern originell, als die Aloe in der Literatur eine reiche Symbolgeschichte besitzt und dort allgemein eher für Keuschheit, Leiden, Buße, Fruchtbarkeit, Unfruchtbarkeit, späte Hoffnungserfüllung, Geduld, große Werke und Liebe steht. [20] Dennoch kann die Symbolverschiebung zum Adel hin nachvollzogen werden. Jedoch hält es die Verfasserin für durchaus „normal“ (damit nimmt sie für Ihre Auffassung die höhere Weihe der „Normalität“ in Anspruch, ohne dies indes nachzuweisen), daß man kränkelnde Pflanzen grundsätzlich entsorgen oder durch eine neue Pflanze ersetzen müsse oder würde (Seite 66). Dem ist zu widersprechen, schließlich muß nicht jede Pflanze, die krank ist, umgehend kompostiert oder verbrannt werden, da auch bei Pflanzen Gesundungsprozesse stattfinden können; [21] Krankheit ist nicht mit dem Tod gleichzusetzen oder doch nur dann, wenn Pflanzen von den gärtnerisch tätigen Personen aufgegeben werden (dies erinnert an Heinrich Heines "un/doing nobility"-Ansatz) [21a]. Die Krankheit des verhärteten Spargelwächses wird in dem Aufsatz jedoch dystopisch als angeblich folgerichtige Vorstufe des Ablebens heraufbeschworen. [22] Verwechselt wird eventuell zudem von der Verfasserin die Aloe (die Art ist nicht näher im Stechlin bestimmt, möglicherweise war es aber „vera“) aus der Familie der Xanthorrhoeaceae mit einer Agave americana aus der Familie der Asparagaceae (Seite 66). Schon Linné "theilte die Aloepflanzen die von je her beysammen geblieben waren, in zwey unterschiedene Geschlechter. Dem einen ließ er den alten Namen und nannte selbiges ebenfalls Aloe, dem andern hat er die Benennung Agave [...] beygeleget. Zu dem erstern zählt er alle diejenigen Pflanzen, welche röhrichte Blumen haben und deren Staubfäden alle nicht merklich über die Röhre der Blumen hervorstehen. Die Aloepflanzen aber mit trichterförmigen Blumen und über die Blumenblätter hervorstehenden Staubfäden setze er unter das Geschlecht der Agave." [23] Über die jeweiligen Blütenformen geben allerdings weder der Stechlin noch das von der Verfassern beigezogene Bismarckportrait Auskunft; was mithin auf dem Bismarckbild eigentlich zu sehen ist, muß letztlich unklar bleiben. Eine Mischform, eine angebliche "Aloe (Agave americana)" ist es aber sicher nicht. Andere Literaturwissenschaftler*innen sahen außerdem in der am Romanbeginn erwähnten Topfsymbiose eine evolutionäre Wandlung vom Alten zum Neuen, sahen darin den Adel nur noch als illusionistische Glorie (der zwar nicht mehr selbst blühe, aber unübersehbar noch existent sei), aber in der Gefahr stehe, vom vierten Stand (dem „plebejischen“ Wasserliesch) bald verdrängt zu werden. [24] Die Verfasserin des erwähnten Aufsatz widerspricht dieser Meinung schließlich aber doch noch; sie glaubt am Ende, der „Adel“ bestehe nun doch auch weiterhin, auch nach dem Stechlin, gewandelt zwar, von seinen Originalen (wie dem alten Dubslav) entkernt, doch eine „dauernde Wertsubstanz“ [25] darstellend, die sich über die Zeitläufte erhalten würde (Seite 72); lediglich „durchlässiger“ sei die Adelswelt geworden. Ein weiterer Beitrag des Sammelbandes lotet sodann den Myrioramismus verschiedener Formen aristokratisierender Adelserweiterungen wie den Geistesadel oder den Tugend- und Gesinnungsadel – insgesamt acht Formen – gekonnt aus (Seite 116-117). Hilfreich und anschaulich präsentiert werden außerdem mehrere Grafiken zur konkreten Umsetzung der Frame-Thoerie (Seite 162-163, 171, 188, 196), die ihre Anwendbarkeit auch für andere Arbeitsfelder oder Untersuchungsgegenstände aus der Adelsforschung erleichtert und zur Nachahmung und Adaption einladen. So liegt mit diesem Sammelband, der vorwiegend germanistisch orientiert ist, durchaus aber auch hybridisiert kulturwissenschaftliche Anteile hat (die Herausgebenden wie Verfassenden vertreten hier eine interdisziplinäre, bisweilen auch nur eine multidisziplinäre Sicht), vielfach eine produktive und konstruktive Wechselperspektive zwischen Geschichts- und Literaturwissenschaft anbietet, ein lesenswerter und anregender Band vor, der aufzeigt, daß das Aristokratismus-Konzept ein fruchtbares Forschungsfeld geworden ist. Diese Rezension stammt von Dr. phil. Claus Heinrich Bill. M.A., M.A., B.A. und erscheint ebenso gedruckt in der Zeitschrift für deutsche Adelsforschung. Annotationen:
|
|||||
© Institut Deutsche Adelsforschung - Quellenvermittlung für Wissenschaft, Familienforschung, Ahnenforschung | Seitenanfang |