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Gentilhommeske Bewältigungsstrategien in KrisenEliten in Übergängen, Diskontinuitäten und Brüchen von der Antike bis zum 20. JahrhundertDas Jahr 1919 war für den Adel ein erheblicher Zäsurpunkt, [1] in ihm endete eine jahrhundertelange rechtliche Vorrangstellung, [2] auch wenn der Adel gesellschaftlich nach wie vor, zumindest in konservativen Kreisen, als aristokratisches Leitbild erhalten geblieben war, ihm vielfach auch danach noch von sozialen Umwelten Achtung, Respekt, Deferenz und Prestige zugeschrieben wurde. Auch nach 1919 stellte er immer noch eine „ästhetische Attraktion“ dar. [3] In jene gentilhommeske Umbruchszeit des vor allem rechtlichen Bedeutungsverlustes fällt jedoch auch eine eindeutige Verurteilung des Adels durch eine Arbeiter*innen-Zeitung aus dem Jahre 1919; dort hieß es in einem Überblick zur Historie des Adels: „In der Sitzung des Verfassungsausschusses der Nationalversammlung am Montag berichtete Max Winter über den Antrag Sever und Genossen auf Abschaffung des Adels, der Auszeichnungen und Titel und die Aufhebung der Orden. Das Gesetz spricht im § 1 aus: Der Adel, die Adelstitel und Adelsvorrechte, die Wappen und die bloß zur Auszeichnung verliehenen Titel sind abgeschafft, die Orden aufgehoben. Der Berichterstatter sagte, daß es der Wille des Gesetzgebers sei, mit den Ueberbleibseln aus dem feudalen Staate, die schon in die konstitutionelle Monarchie nicht gepaßt haben, endgültig aufzuräumen. In der demokratischen Republik muß es der Stolz des Bürgers sein, sich ohne Selbstsucht und ohne Streben nach äußeren Auszeichnungen das Bewußtsein erfüllter Pflicht gegenüber dem Gemeinwesen zu erringen. Der Adel war ursprünglich bei den alten Germanen auch eine Auswahl der Tüchtigsten. Es waren wirklich die Edlen, deren Familien die Häuptlinge stellten. Die Wurzeln des heutigen Adels sind andere. Das Königtum des früheren Mittelalters schuf die Grafen als höchste Verwaltungsbeamte, denen es Großgrundbesitz verlieh. Diese Standeserhebung wurde aber erblich. Damit war schon der Grundsatz der Auswahl der Tüchtigsten durchbrochen. Adelige wurden in späterer Zeit auch die Dienstmannen von Fürsten, die Hofämter bekleideten, dann aber die Mitglieder der Reiterheere, die den Ritterstand bildeten und sehr rasch die Entwicklung vom Berufsstand zum adeligen Geburtsstand durchlebten. Das vierzehnte Jahrhundert schon brachte die scharfe Scheidung zwischen hohem und niederem Adel. Das Volk war in Stände gegliedert, die Standeszugehörigkeit entschied über das Maß der zuständigen politischen und privaten Rechte. Die höchsten Rechte waren dem hochadeligen Großgrundbesitz zugebilligt, der auch die stärkste wirtschaftliche Überlegenheit hatte. Der Hochadel ein war Träger der politischen Rechte, die in der alten germanischen Verfassung jedem freien Manne zugestanden waren, und er gebot über die Masse der Freien, die er zu Hörigen machte. Die Landesherren sahen die Macht wachsen, die nicht dem Staatsganzen zugute kam und die auch ihrer Macht gewiß Beschränkungen auferlegte. Sie fanden kein Mittel, des engstirnigen Adels Herr zu werden. Die englische Gentry stellte frühzeitig ihre Sonderwünsche zurück, es entwickelte sich Staatsleben. In Frankreich wurde der Adel niedergeworfen und es wurde die Grundlage zum modernen Nationalstaat geschaffen. Zu Deutschland trieb man den Teufel mit dem Beelzebub aus. Die Übernahme des römischen Rechtes und die Entwicklung des gelehrten Beamtenapparats schuf den Briefadel als Zeichen gewisser Beamtenränge. [4] Dadurch gelang es wohl, die politischen Rechte des Hochadels zu verkümmern, sie waren nicht mehr Mitregenten des Territorialfürsten, aber die ersten Teilhaber an dem Hofglanz. Alle höheren Stellen blieben ihnen vorbehalten, im Staate, in der Kirche und im Heere. Der Adel war frei von Steuern, die landesfürstliche Verwaltung machte halt vor dem Großgrundbesitz. Die Hörigen waren dem Großgrundbesitz mit Leib und Gut überliefert. Die grausame Justiz des Mittelalters war nur möglich, weil die adeligen Großgrundbesitzer in eigener Sache Recht sprachen. Gegen Aufrührer waren die Spietze[l] der Landsknechte da. Je rechtloser der Adel politisch wurde, um so anmaßender wurde er aber nun gegen die bürgerliche `Canaille´. Im immer schärferen Gegensatz zu den allgemeinen Menschenrechten geriet der Adel. Der Bauer fragte sich: Wer bringt das Korn hervor? Und der Bürger in den Städten, materiell erstarkt, sah mit Neid das arbeitslose und glänzende Einkommen des Adels. Die einen verachteten ihn, die anderen aber suchten selbst zum Adel `aufzusteigen´. [5] Die französische Revolution hatte alle Vorrechte des Adels, die Titel und die Wappen abgeschafft, die neuen amerikanischen Republiken hatten von vornherein jedes Vorrecht eines Standes für unzulässig erklärt. [6] Immer mehr setzte sich im neunzehnten Jahrhundert auch in Mitteleuropa der Grundsatz durch, daß vor dem Gesetz alle Bürger gleich sind. Wir wissen, in wie vieler Beziehung dieser Grundsatz bei uns in Oesterreich auch jetzt noch auf dem Papier steht. Damit ist aber die Entwicklung des Problems noch nicht beendet, wenn auch die gesetzlich verbürgten allgemeinen Vorrechte mehr und mehr verschwanden. Erhöhte Macht gewann er auch dadurch, daß seit der Vereinigung Böhmens, Ungarns und Polens unter der österreichischen Herrschaft die Adelsversippung das ganze Reich der alten Monarchie beherrschte. Einige Vorrechte waren aber auch in dieser Zeit noch dem Adel geblieben: das Recht auf Titel, Prädikate und Wappen, das Recht auf Plätze von Stiftungen, die dem Adel vorbehalten sind, dann, daß rittermäßige Lehen nur vom Adel erworben werden können und daß `die Errichtung von Familienfideikommissen nur dem Adel bewilligt zu werden pflegt´. Es `pflegt´ auch vieles andere nur dem Adel bewilligt zu werden. Der Glaube des Volkes an den Adel war noch nicht überwunden [...] Wie das Volk an den Adel noch glaubt, beweisen auch die vielen, für die Zuschauer lustigen Hochstaplergeschichten, die wir in den letzten Jahren erlebt haben. [7] Wie rasch da einer zum Baron werden kann und wie leicht es so einem Hochstaplerbaron wird, die dummen Mitbürger zu schröpfen! Diesen in Geld umzumünzenden Nimbus zu zerstören ziemt der demokratischen Republik […] Man kann einwenden, daß der Adel nur die Dummen blendete, zu denen auch die Gaffer auf den Gassen gehören, die stehen bleiben, wenn ein Adeliger in seiner Karosse vorfährt [...] Wir müssen dem Volke helfen, andere Spiele zu finden als das Gaffen nach glänzenden Karossen, nach in Seide rauschenden Damen und nach goldstrotzenden Uniformen.“ [8] Dieser negativ konnotierte Parforceritt durch die Adelsgeschichte, verfaßt in eben jener Krisenzeit der Gentilhommerie kurz nach Ende des ersten Weltkriegs, aber noch vor den Verfassungen der deutschen Weimarer und der österreichischen ersten Republik, war deutlich aus Sicht der Arbeiterbewegung geschildert worden als eine Abfolge von Machtaneignungen und Unterdrückungen. Gleichwohl sprach der adelskritische Artikel vielfach vom Gestaltungswillen des Adels, sah den Adel wenig durch Krisen bedroht, sondern vor allem als Akteur mit starker Agency. Dort aber, wo „der Adel“ unterlegen sei, habe er sich neue Felder der Herrschaft gesucht. Zugleich wurde aber dort auch kritisiert, daß die Gesellschaft „den Adel“ als viel zu positiv wahrgenommen habe, wurde postuliert, daß soziale Umwelten maßgeblich mit an der Adelserzeugung, einem „doing nobility“, wie es Wietschorke (2018) einmal ausgedrückt hat, [9] teilgenommen hätten. Doch wurde die Geschichte der Eliten, die sich selbst von der Antike bis ins 20. Jahrhundert hinein als Aristoi, Nobiles oder Adelige bezeichneten (und von anderen so bezeichnet worden waren) stets als so konfliktarm wahrgenommen? Ein neuer Sammelband aus dem Lit-Verlag in Münster, [10] der sich mit Herausforderungen des Adels dieser Art befaßt, verneint diese Frage. Er sticht hervor durch zwei Besonderheiten. Erstens behandelt er Selbstbehauptungsstrategien und Krisenbewältigungen traditioneller Eliten, zumeist mit dem Etikett der „Nobilität“ versehen, über die Zeitläufte hinweg. Hier liegt mithin, durch acht Aufsätze vollzogen, ein intraepochaler Vergleich vor, hat sich die komparatistische Adelsforschung auf mehrere Studien verteilt mit Antike, Mittelalter, dem 19. und 20. Jahrhundert beschäftigt. Dabei geht es stets darum, wie gesellschaftliche, politische und ökonomische (ohnedies oft miteinander verflochtene) Geschichte einerseits von der Gentilhommerie erlitten und andererseits gestaltet worden ist, welche Reaktionsweisen „der Adel“ in ausgewählten Einzelfällen angewandt hatte, um „oben“ und später auch nur „zusammen“ zu bleiben“. [11] Eine andere innovative Eigenschaft des Bandes ist die Anwendung des Ordnung-Latenz-Konzeptes von Giesen für die Adelsforschung. [12] Dort werden die fünf Modi „sozialer Kommunikation“ – Symbolisierung, Ritualisierung, Mythisierung, Normativisierung und Rationalisierung – erörtert und auf die „latente Gegenwart“ der Erinnerungsgemeinschaft des historischen deutschen Adels in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts angewendet (Seite 264). [13] Man wird hier gespannt sein können, wie sich dieses Quintett auch in andere Kontexte der Adelsforschung wird implementieren lassen können. Jedoch können an dieser Stelle auch einige kritische Bemerkungen gemacht werden. Denn obschon vielfache Herausforderungen zur Sprache kommen, beispielsweise die Einflüsse der Kirche auf das französisches Rittertum des 12. Jahrhunderts einerseits, die massenhafte Verfügbarmachung typisch adeliger Symbole wie Siegelringe auch für nichtadelige Rezipierende und Konsument*innen und damit eine soziale Aufweichung der einst für den Adel reservierten materiellen Symbollandschaften [14] im 21. Jahrhundert andererseits, so fehlt es dem Sammelband doch insgesamt an einer systematischen Herangehensweise an den Krisenbegriff, [15] wie er beispielsweise bei Doehlemann (1996) aufgeführt wird. [16] Ein anderes Manko ist die teilweise in der Forschung als veraltet und wenig wirklichkeitsnah geltende (gleichwohl einfach durch „Alter“ scheinbar bewährte) statische „being nobility“-Sicht auf den Adel, wird er doch in einem Beitrag – erstaunlicherweise immer noch – stark kontingenz- und komplexreduziert als eine „durch Abstammung und Nobilitierung definierte gesellschaftliche Gruppe“ beschrieben (Seite 187). [17] Auch das Personenverzeichnis ist zumindest originell zu nennen, denn Personen wurden dort teils nach ihrem Nachnamen, teils mit ihrem Vornamen sortiert. [18] Eine andere Herausforderung besteht darin, daß die im Sammelband enthaltenen Beiträge auf Vorträgen einer wissenschaftlichen Tagung beruhen, die bereits 2006 auf Schloß Nöthnitz bei Dresden stattfand, [19] die Grundfragen daher aus einer anderen Forschungsepoche mit anderen Fragestellungen und Erkenntnisinteressen stammten und nur notdürftig mit dem neuesten Forschungsstand abgeglichen werden konnten, ohne daß das Grundgerüst der Beiträge angepaßt werden konnte. Infolge des Zeiträume übergreifenden Ansatzes jedoch fällt dieser Umstand nicht allzu schwer ins Gewicht, können die Aufsätze gleichwohl mit Gewinn gelesen werden. Zuletzt ist auffällig, daß es in den Beiträgen allein um die Fokussierung auf die Agency der Akteur*innengruppenbildungen namens „Adel“ geht. Dieser Blickwinkel kann positiv gewertet werden als detaillierte Beleuchtung und Erörterung des „Eigensinns“, des „Kitt[s] für die Zusammengehörigkeit des Adels“ (Seite 3), der „Ansprüche auf die Akzeptanz gesellschaftlicher Überlegenheit“ (Seite 1), der „adlige[n] Binnenkommunikation“ (Seite 214), der „Techniken sozialer Distinktion und gruppenspezifischer Kohäsion“ (Seite 214). Er kann aber auch negativ konnotiert werden als allzu eingeengter Blick auf „den Adel“, der die sozialen Erzeugungsbedingungen von „Adel“ ausblendet, Nobilitäten als voraussetzungslos existent anerkannt, deren Labilität als soziale Kategorie unbeachtet läßt und damit selbst zu einer Nachahmung und Perpetuierung eines genuin eigenadeligen Selbstverständnisses wird. Die Adelsforschung hat sich bislang viel mit einem derartigen „Ingroup-Making“ [20] und dem „Policy-Making“ des Adels seitens staatlicher oder obrigkeitlicher Akteur*innen [21] beschäftigt, weniger mit dem „Nobility-Making“ mehrerer Akteur*innen; [22] der vorliegende Sammelband fällt eindeutig in die Kategorie der „Nabelschauen“ des „Ingroup-Making“, wenn es darin auch nicht allein um das Selbstverständnis, sondern ebenso um Lösungswege zur Aufrechterhaltung dieses Selbstverständnisses, des Machterhalts und der Privilegienrettung durch angepaßte Transformation(en) geht. Mit anderen Worten gesagt sind Studien im Top-Down-Modus der herrschaftlichen Adelspolitik ebenso wichtig wie Studien zum „Inside-Cycle“ der adeligen Selbstbezogenheit, aber es wird erhellend sein, mehr Studien im Bottom-Up-Modus zu erstellen, Studien, die eher eine Koproduktion der Gentilhommerie fokussieren. In der Stoßrichtung seiner Motive – eines beschränkten „Ingroup-Making“ und „Inside-Cycle“ – kann der Band jedoch durchaus als wertvoll bezeichnet werden, deckt er doch zeitübergreifend Strategien „des Adels“ zur Bewältigung von „ständischen“ Herausforderungen auf. Dazu zählten die perpetuierte sprechaktliche Eigenpräsentation als soziale Gruppenbildung, die sich als Ordnungsgarant gegen „das Chaos“ verstand (Seite 306), die Behinderung von Konkurrent*innen (Seite 307), die Mitwirkung an politischen Institutionen (Seite 307), aber auch die Expansion auf andere Territorien (Seite 308). Abseits dieser Strategien könnte aber künftig noch mehr das bisher eher unterbelichtete „Nobility-Making“ – in Form des „un/doing nobility“ – in den Fokus rücken, eröffnen sich dort doch noch weitere Möglichkeiten neuer Erkenntnisse der gesamtgesellschaftlichen Erzeugungsverantwortung für „die Adelsexistenz(en)“, die eben nicht nur von den adelseigenen Handlungen oder Unterlassungen abhängig war. Dieses „Making“ hat nicht zuletzt vorausschauend schon der eingangs zitierte Anonymus beobachten können, der feststellte, daß die Bevölkerung „nach glänzenden Karossen, nach in Seide rauschenden Damen und nach goldstrotzenden Uniformen“ bewundernd ausgeschaut habe. Die Frage nach dem Wie und dem Warum dieses gemeinschaftlichen sozialen Aktes, der noch weit über die Selbstbehauptungsstrategien des Adels hinausging, wäre eine willkommene Ergänzung zu den wichtigen Erkenntnissen von „Eigensinn“ und Selbstbehauptung, wie sie facettenreich in dem in Rede stehenden Sammelband gestellt und ebenso informativ wie kenntnisreich beantworten worden sind. [23] Diese Rezension stammt von Dr. phil. Claus Heinrich Bill, M.A., M.A., B.A., und erscheint ebenso gedruckt in der Zeitschrift für deutsche Adelsforschung. Annotationen:
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