Institut Deutsche Adelsforschung
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Bekannte und vergessene altmärkische Herrensitze

Der Bestand von Adelssitzen in drei sachsen-anhaltinischen Kreisen 2016 und 2021

Zum Winter 1938, kurz vor Weihnachten, konnten Westdeutsche am 21. Dezember in der Ausgabennummer 351 der Lippischen Staatszeitung aus Detmold auf Seite 6 unter anderem einen Textartikel wahrnehmen und rezipieren, der folgenden Wortlaut besaß: „Geheimnis in Europas reichstem Jagdgebiet. Ein Kaiserschloß ist zu verschenken. Vergessener Prachtbau in der Altmark. Wird das ‚Schwanenhaus‘ eine Ruine? Magdeburg, 20. Dezember. Mitten in der jagdreichen Letzlinger Heide ragt völlig vereinsamt unter Linden und Eichen das Letzlinger Jagdschloß in die Höhe. Das mächtige Gebäude, das lange Zeit die prächtigsten kaiserlichen Jagden erlebte, ist heute zu – verschenken. Und dennoch hat sich kein Mensch gefunden, der bereit wäre, das historische Bauwerk kostenlos zu übernehmen. Das Schloß ist überaus großzügig eingerichtet.

Riesige Fürstenzimmer, mit Leder austapeziert, und mit wertvollen Holzarbeiten geschmückt, lassen heute noch die Pracht erkennen, die einst verschwenderisch in das alte Schloß Letzlingen hineingebaut worden war, nachdem der Berliner Hof das Gebäude vor einem Jahrhundert ‚neu entdeckt‘ hatte. Aber heute steht das Schloß mit seinen Zimmern und Sälen völlig vereinsamt. Dieser Prachtbau, im Tudorstil errichtet, bereits von Efeu und wildem Wein dicht umrankt, hat heute keine Bestimmung mehr. Vergeblich bemüht sich die zuständige staatliche Verwaltung, einen Besitzer für den weitläufigen Bau zu finden, um die sehr erheblichen Verwaltungskosten einzusparen. In den Nachkriegsjahren waren mehrere Benutzer vorhanden. Nachdem die Einrichtung des Schlosses bald nach dem Kriege verschleudert worden war, fand sich ausgerechnet ein [...] ‚Schulinstitut‘ ein, das einige Zeit hindurch das Schloß in Beschlag nahm. Seit langer Zeit aber hat sich kein weiterer Interessent mehr gefunden. Dabei ist die Verwaltung jetzt bereit, geeigneten Interessenten das Schloß umsonst abzugeben, wenn sie sämtliche Unterhaltungskosten übernehmen wollen. Das vergessene Bauwerk in der Stille der Heide hat eine wechselvolle Vergangenheit hinter sich. Im Jahre 1558 wurde es durch den Kurprinzen Johann Georg von Brandenburg erbaut. Im Dreißigjährigen Kriege residierte der Große Kurfürst längere Zeit im Letzlinger Schloß, in dem er Zuflucht suchte. Das Schloß wurde aber kurz darauf vom Herzog von Braunschweig ausgeplündert und zum Teil niedergebrannt.

Im Jahre 1743 erst hielten die Baumeister hier wieder ihren Einzug, um die Gebäude zu erneuern. Später sah das Schloß dann viele hohe Gäste. Der Alte Dessauer erschien hier regelmäßig zu Jagden, ebenso Prinz Louis Ferdinand. Im 19. Jahrhundert nahm auch der Altmärker Bismarck als des Reiches Kanzler an den Hofjagden teil. Die Letzlinger Heide, in deren Mitte dieses Märchenschloß steht, dessen Glück und Glanz dahingegangen sind, ist nicht nur das reichste, sondern auch das interessanteste Jagdgebiet Mitteleuropas. Im Jahre 1846 waren hier noch 10.000 Stück Wild vorhanden. Und im 18. Jahrhundert befanden sich unter der Strecke immer noch zahlreiche Wölfe. Damwild wurde in der Letzlinger Heide erst 1713 eingeführt. Damals brachte man 7.000 Stück Damwild aus der Pirschheide bei Potsdam nach dem Heidegebiet, das später eingegattert worden ist.“

Was heute aus dem mitadelserzeugenden Raumaktanten [1] Letzlingen geworden ist und welches Schicksal das altmärkische Gebäude-Ensemble erfahren hat, klärt im Übrigen ein neuer Band aus dem beliebten Herrenhausarchitekturgenre auf: Das Ehepaar Reisinger – beide Ehepartner sind Medizinprofessor:innen im Ruhestand – bereisten dazu in den Jahren 2016 bis 2021 die Altmark und suchten eine möglichst umfangreiche Dokumentation von Adelssitzen zu erstellen. [2] Veröffentlicht haben Sie ihre Besuchsnotizen, mit zahlreichem Bildmaterial versehen, in dem Band „Bekannte, unbekannte und vergessene Herren- und Gutshäuser in der Altmark“, erschienen in Hardcoverbindung mit 178 Seiten im Dr.-Ziethen-Verlag in Oschersleben unter der ISBN „978-3-86289-204-4“; erhältlich ist der Band im virtuellen oder stationären Buchhandel um den Preis von 25,00 Euro im Format von 16 x 24 Zentimetern und mit dem Gewicht von 458 Gramm.

Geschildert werden dort in Text und Bild 129 Herren- und Gutshäuser in 112 Ortschaften in den drei sachsen-anhaltinischen Kreisen des Landkreises Stendal, des Landkreises Börde und des Altmarkkreises Salzwedel. [3] Damit bietet sich sowohl Gutshausreisenden wie dem Autor:innenehepaar als auch an der Dokumentation vorwiegend des Istzustandes der Herrensitze ein relativ aktuelles Werk an, das den derzeitigen Zustand der Gebäude dokumentiert. Es werden aber auch in den den Bildern beigefügten Texten historische Angaben geliefert, auch wenn die Nachweisung leider nur rudimentär erfolgt (es fehlen durchweg Seitenzahlen der Nachweisung von Literatur) beziehentlich vielfach wird gar keine Literatur, sondern es werden bestimmte Webseiten aus dem Internet als Quellen angegeben; so wurden laut Literaturverzeichnis auf den Seiten 172-176 nur 22 Mal gedruckte Literatur, aber 95 Mal das World Wide Web, unter anderem Wikipedia, benützt. Entsprechend der beruflichen Ausrichtung der beiden Reisenden und Autor:innen ist das Werk kein wissenschaftliches Werk der Geschichtswissenschaft, es kennt daher keine Methode oder Theorie, vertritt allein die Sicht von Reisenden, die auch auf ungeprüfte Angaben vertraut haben, so oftmals, was dann jedoch durchaus transparent angegeben wird, auf Befragungen von zufällig anwesenden Anwohnenden (oder Besitzenden) und deren Erzählungen zum Zeitpunkt der Bereisung. Die große Stärke des Bandes liegt also vor allem in der dokumentarischen Festhaltung des Zustandes der entsprechenden Häuser zum Zeitpunkt 2016 und 2021, kann freilich ebenso künftigen Gutshausreisenden als Leitschnur für Besuchstouren dienen, bei denen man die Häuser allerdings oftmals nur von außen besichtigen kann.

Zu diesen vom Ehepaar Reisinger besuchten und geschilderten wie photographierten Herrenhäusern gehörte indes auch das eingangs erwähnte Jagdschloß Letzlingen, dessen Zukunft im Jahre 1938 noch in der Schwebe und daher unsicher war. Die Geschichte Letzlingens wird im besprochenen Werke auf Seite 140-142 geschildert; dort hieß es zum weiteren Schicksal des Hauses auf Seite 142, es sei, was im Zeitungsartikel von 1938 merkwürdigerweise nicht erwähnt wurde, „ab September 1933 Schule für SA- und SS-Führer, 1938 Lungenheilstätte“ geworden: „Im zweiten Weltkrieg als Lazarett eingerichtet, war es von 1945 bis 1991 Außenstelle des Krankenhauses Gardelegen. Nach Auszug des Krankenhauses ließ die ‚Stiftung Schlösser, Burgen und Gärten des Landes Sachsen-Anhalt‘, heute ‚Kulturstiftung Sachsen-Anhalt‘, das Schlossensemble [sic!] restaurieren. Teile der Gebäude werden von einem Hotel mit Restaurant genutzt. Im Haupthaus informiert eine ständige Ausstellung über Schloss [sic!] und Jagd in der Letzlinger Heide.“ [4]

Auf ähnliche Weise werden auch die vielen anderen Herrenhäuser beschrieben. Wertvoll ist das Bildmaterial, ab und an flankiert durch historische Dunckeraufnahmen,5 auch wenn einige neuere Abbildungen seltsam unscharf erscheinen, als wären sie aus dem Internet mit geringer Auflösung heruntergeladen worden. Das ästhetische Leseerlebnis wird dadurch beeinträchtigt, insgesamt aber wird man doch dem Werk nicht die Anerkennung versagen können für den Zweck, für den es geschrieben wurde. Man kann mit ihm nicht nur die „Altmarkimpressionen“, wie es auf dem Buchrückdeckel formuliert worden ist, der beiden reisenden und photographierenden Autor:innen verfolgen, sondern das Büchlein auch selbst (erleichtert über ein Ortsverzeichnis auf den Seiten 178-178) als Reisevorbereitung oder -begleiter – sowie als Inspiration – benützen; schließlich werden auch viele gegenwärtigen Nutzungskonzepte angesprochen und vorgestellt.

Diese Rezension erscheint zugleich gedruckt in der Zeitschrift für deutsche Adelsforschung und stammt von Dr. Dr. Claus Heinrich Bill (März 2024).

Annotationen:

1 = Dazu siehe Vorstudien zur poststrukturalistischen Auffassung von Adel als Situativerzeugung, so bei Kathrin Busch: Hybride. Der Raum als Aktant, in: Meike Kröncke / Kerstin Mey / Yvonne Spielmann (Hg.): Kultureller Umbau. Räume, Identitäten und Re/Präsentationen, Bielefeld: Transcriptverlag 2015, Seite 13-28; Anke Rees: Das Gebäude als Akteur. Architekturen und ihre Atmosphären, Zürich: Chronosverlag 2016, 364 Seuten (darin entwirft sie unter anderem ein „Atmosphären-Netzwerk-Modell“); ferner dazu Claus Heinrich Bill: Konzept des Adelsbegriffs „Un/doing Nobility“, in: Institut Deutsche Adelsforschung (Hg.): Bildatlas zur deutschen Adelsgeschichte 4. Adelsgrafiken als Beitrag zur komplexreduzierten Aufbereitung von für die Adelsforschung dienlichen Theorien und Modellen, Sonderburg: Selbstverlag des Instituts Deutsche Adelsforschung 2018, Seite 40-41.

2 = Besprochen und vorgestellt werden Altenzaun, Arnim, Bertkow, Billberge, Birkholz, Briest, Burgstall, Damerow, Wust, Sydow, Mahlitz, Neuermark-Lübars, Schollene, Nierow, Ferchels-Karlsthal, Hohenkamern, Waldfrieden, Sandau, Schönhausen, Storkau, Grieben, Jerchel, Köckte-Bölsdorf, Tangerhütte, Kehnert, Welle, Döbbelin, Ünglingen, Windberge, Buchhholz, Lüderitz, Groß Schwarzlosen, Ottersburg, Wittenmoor, Brunkau, Vinzelberg, Vollenschier, Uchtspringe, Schönfeld, Badingen, Kläden, Hohenwulsch, Büttnershof (Iden), Dalchau, Kannenberg, Busch, Iden, Klein Hindenburg, Krusemark, Gethlingen, Osterholz, Bürs (Arneburg),  Polkritz (Schwarzholz), Klein Schwechten, Werben, Engelshof, Neu Goldbeck, Wöllmerstift, Neukirchen, Schönberg, Falkenberg (Seehausen), Eickerhöfe (Losenrade), Eickhof (Geestgottberg), Gershof, Dobbrun, Meseberg, Erxleben, Königsmark, Wolterslage, Walsleben, Calberwisch, Bretsch, Priemern, Krevese, Krumke, Einwinkel, Wollenrade, Scharpenhufe, Pollitz, Krüden, Rogätz, Vienau, Kalbe an der Milde, Jemmeritz, Klötze, Kunrau, Lindstedt, Schenkenhorst, Isenschnibbe-Gardelegen, Siems, Polvitz, Letzlingen, Beetzendorf, Apenburg, Rittleben, Salzwedel, Kloster Neuendorf, Diesdorf, Dambeck, Büssen, Osterwohle, Deutschhorst, Langenapel, Tylsen, Neumühle-Tangeln, Flechtingen und Weteritz.

3 = Zur Herrenhausgeschichte siehe fernerhin Boje Schmuhl / Konrad Breitenborn (Herausgebende): Jagdschloss Letzlingen, Band I (1559-1861), Halle an der Saale: Verlag Stekovics 2001, 280 Seiten (Band II/1 der Schriftenreihe „Schriftenreihe der Stiftung Schlösser, Burgen und Gärten des Landes Sachsen-Anhalt“); Boje Schmuhl / Konrad Breitenborn (Herausgebende): Jagdschloß Letzlingen, Band II (1861-2003), Halle an der Saale: Verlag Stekovics 2003, 360 Seiten (Band II/2 der Schriftenreihe „Schriftenreihe der Stiftung Schlösser, Burgen und Gärten des Landes Sachsen-Anhalt“); Konrad Breitenborn: Deutscher Gruss [sic!] mit Weidmannsheil. Das Staatsjagdrevier „Letzlinger Heide“ in der Zeit des Nationalsozialismus. Eine Dokumentation, Wettin-Löbejün: Verlag Janos Stekovics 2023, 208 Seiten (Heft Nummer 8 der Schriftenreihe „Veröffentlichungen der Kulturstiftung Sachsen-Anhalt“); Kai Agthe [sic!]: Vor die Büchse getrieben. Staatsjagdrevier und Schießplatz. Konrad Breitenborn dokumentiert die Nutzung der Colbitz-Letzlinger Heide in der Zeit des Nationalsozialismus, in: Mitteldeutsche Zeitung (Halle an der Saale), Ausgabe vom 15. Juli 2023, Seite 23.

4 = Siehe dazu Nomen Nescio: Alexander Duncker 1813-1897. Ländliche Wohnsitze in künstlerischen Darstellungen des 19. Jahrhunderts, Berlin: Verlag für Regional- und Zeitgeschichte 2013, 40 Seiten (Band LXXXVIII der Schriftenreihe „Die Mark Brandenburg“); Peter-Michael Hahn / Hellmut Lorenz / Vinzenz Czech (Herausgebende): Herrenhäuser in Brandenburg und der Niederlausitz. Kommentierte Neuausgabe des Ansichtenwerks von Alexander Duncker (1857-1883), Berlin: Nicolaiverlag 2000,Hahn, Peter-Michael: Herrenhäuser in Brandenburg und der Niederlausitz. Kommentierte Neuausgabe des Ansichtenwerks von Alexander Duncker (1857-1883), Band 1 (Einführung), Berlin 2000, 166 Seiten; Hahn, Peter-Michael: Herrenhäuser in Brandenburg und der Niederlausitz. Kommentierte Neuausgabe des Ansichtenwerks von Alexander Duncker (1857-1883), Band 2 (Katalog), Berlin 2000, 690 Seiten; Braun, Rüdiger: Der preußische Adel? Ach, egal!, in: Märkische Allgemeine, Ausgabe vom 29. Juli 2015, Seite 729 (betrifft Professuren für brandenburgische Landesgeschichte in Deutschland, aber auch den Drucker Alexander Duncker als „Biographen“ von adeligen brandenburgischen Herrensitzen). „Der Duncker“ entwickelte sich mit der Zeit nicht nur zu einem guten Geschäftsmodell für den Königlich Preußischen Hofbuchhändler Duncker, sondern auch zu einer Art „Herrensitz-Gotha“, da sich Herrenhausbesitzer um die Aufnahme ihres Hauses in die schrift- und bildaktlich gedruckte Adelserzeugung mit Langzeitwirkung bis in unsere Tage des XXI. Jahrhunderts (wie man nicht zuletzt auch am besprochenen Reisingerwerk erkennen kann, das in gewisser Weise, wenn auch nicht so romantisierend, in der Tradition Dunckers steht) bemühen konnten; dazu notierte Alexander Duncker in einer Annonce in der Kölnischen Zeitung (Köln), Ausgabe Nummer 347 vom 15. Dezember 1859 auf Seite 5: „Als ein ganz besonders geeignetes und willkommenes Fest-Geschenk für die mit Grundbesitz angesessenen Herrschaften empfehle ich ‚Die ländlichen Wohnsitze, Schlösser und Residenzen der ritterschaftlichen Grundbesitzer in der preußischen Monarchie‘. Der erste Band dieses mit so ungetheiltem Beifall aufgenommenen Prachtwerks, das in seinem Fortschreiten ein immer erhöhtes Interesse gewinnt, ist sehr elegant eingebunden mit reich vergoldeter Decke zu erhalten und bildet in dieser Form ein gehaltvolles Album, das, immer wechselnde Unterhaltung gewährend, einen für alle Zeit bleibenden Werth behält. In den so eben erscheinenden Lieferungen befinden sich unter anderen die Ansichten der interessanten Schlösser: Sagan, Primkenau, Burgscheidungen, Herdringen etc.[.] Subscriptions-Anmeldungen, so wie Wünsche und Bemerkungen wegen Aufnahme der Besitzungen nimmt der unterzeichnete Herausgeber jeder Zeit entgegen. Der Eintritt in das Abonnement kann bei jedem beliebigen Heft erfolgen; die früher erschienenen Lieferungen können, wenn es gewünscht wird, in näher zu bestimmenden Intervallen nachbezogen werden. Jährlich erscheinen 10 Lieferungen (à 1¼ Th[ale]r.) oder 30 Ansichten, zwei Jahrgänge bilden einen Band, zu dem Titel, Register, Einbanddecken etc. geliefert werden. Die bis zum 1. December vervollständigte Liste der geehrten Unterzeichner ist soeben erschienen und wird gratis ausgegeben. Berlin, December 1859. Alexander Duncker, Hof-Buchhändler S[eine]r. Majestät des Königs. Zu beziehen durch die M. Du Mont-Schauberg’sche Buchhandlung in Köln.“


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