Institut Deutsche Adelsforschung
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Adel und Nation in der Vormoderne

Auslotungen zweier entitärer Konstrukte in vornationalstaatlichen Zeiten

Das Zedler-Lexikon, der bekannteste verschriftlichte lexikalische Wissenspool der frühen Neuzeit, versteht unter dem Begriff der Nation „eine vereinigte Anzahl Bürger, die einerley Gewohnheiten, Sitten und Gesetze haben. Aus dieser Beschreibung folget von selbst, dass ein gewisser, grosser oder kleiner Bezirck des bewohnten Erd-Kreises, eigentlich nicht den Unterschied der Nation ausmache, sondern daß dieser Unterschied eintzig und allein auf die Verschiedenheit der Lebens-Art und Gebräuche beruhe, folglich in einer oftmahls kleinen Provintz, Leute von unterschiedenen Nationen bey einander wohnen können […] Vielmehr kan[n] man sagen, daß das Wort Nation dem Inbegriff verschiedener Nationen, die in einem Bezircke wohnen, und eigentlich ein Volck (Populus) heisset, entgegen gesetzt werde. Dieses in der That und in dem Ursprunge des Worts selbst, gegründeten Unterschiedes ohngeachtet, aber hat der Gebrauch es schon lange eingeführet, daß das Wort Nation auch für ein Volck, welches in einer gewissen und von andern abgesonderten Provintz wohnhafft ist, genommen wird“. [1]

Schon diese beiden frühneuzeitlichen Mehrfachnennungen und -bedeutungen weisen auf die hohe Anschlußfähigkeit und den myrioramatischen Wortgebrauch des Begriffes hin, der ähnlich wie der Begriff des Adels ein gleichfalls auslegungs- und definitionsbedürftiges immaterielles Mentefakt darstellte. Diese begrifflichen Indifferenzen in den Worten selbst als auch das Zusammentreten beider Begriffe scheint daher eine spannende Auslotung zu versprechen und auf mannigfaltige Begriffsbeziehungen hinzuweisen. Noch mehr mag dies gelten, wenn dies auf Zeiten bezogen wird, in denen beide Begriffe in unterschiedlichen Konjunkturen standen. Sicherlich wird der Begriff der Nation aus der Sicht einer postmodernen Retrospektive vor allem kennzeichnend für die Zeit des deutschen Nationalstaats wirken, also deutlich in der Zeit seinen Höhepunkt haben, in der der Adel bereits in einer `entsicherten´ Ständegesellschaft begann, sich stark zu `entkonkretisieren´ – oder zumindest zu transformieren. [2] Und andererseits besaß der Begriff des Adels gerade in der Frühneuzeit, als der moderne Nationsbegriff noch kein vorrangig staatlich gemeinschaftserweiternder, sondern vor allem ein landsmannschaftlich-herkünftlicher war, Hochkonjunktur. [3]

Daß jedoch das Verhältnis zwischen Adel und Nation auch in der Frühneuzeit zahlreiche Anknüpfungspunkte besaß, darauf macht jetzt ein neuer Sammelband aufmerksam, der 17 Vorträge verschriftlicht hat, die 2013 auf eine Tagung des Deutschen Historischen Instituts in Paris zurückzuführen sind. [4] Die französische Konnektivität – sie macht sich nicht nur bemerklich in der Herausgeberschaft des Pariser Instituts, sondern auch darin, dass sieben Beiträge in französischer Sprache erschienen sind – mag hierbei insofern auch inhaltlich einleuchten, als mit der französischen Revolution ein neuer und moderner Nationsbegriff geformt worden ist. Aber abgesehen davon deutet bereits die Begriffsvielfalt beider Worte und deuten die dadurch begründeten sozialen Konstrukte an, dass es durchaus auch in der frühen Neuzeit etliche Verbindungen gegeben haben könnte. Der Band und seine Macher*innen stellen dazu vier Themenkomplexe vor. 

Sie untersuchen `Adel als politische Nation´ (I.), Ausprägungen einer `adeligen Internationale´ (II.), Folgen von `Adelsmigration´auf den Natio- und Patria-Begriff sowie das adelige Selbstverständnis (III.) und schließlich das Verhalten von Teilen des Adels `im nationalen Zeitalter´ (IV.). Obgleich also mit den Aufsätzen und Beiträgen die gesamte Neuzeit abgedeckt wird, liegt die Konzentration doch deutlich auf der Frühen Neuzeit, in denen allein drei Abschnitte verortet sind (I.-III.), während nur ein Teil (IV.) als Ausblick auf die Moderne verstanden werden kann.

Die Inanspruchnahme, aber auch Ablehnung und anderweitige Instrumentalisierung beider Begriffe, namentlich des Begriffes der Nation seitens des Adels, der über eine gewisse Agency in der Deutungshoheit über die Begriffe verfügte (eine Art öffentliche Meinung, in der sich eine Nation über sich selbst verständigend diskutieren und herausbilden konnte, existierte trotz des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation noch nicht), steht dabei im Mittelpunkt der Gedanken der internationalen Beiträger*innen des Buches. So befaßt sich Hans-Jürgen Bömelburg (Seite 37-53) mit der Dekonstruktion der imaginierten Selbststrategie der Abstammungslegende der `polnischen Adelsnation´, die er als Gründungserzählung zur künstlichen Traditions- und Identitätsbildung kennzeichnet. [5]

Silke Kamp verhandelt die changierenden landsmannschaftlichen Identitäten von französischen Einwander*innen in Preußen und zeigt deren Einsatz bei je unterschiedlichen Zielgruppen in der `neuen´ Heimat (Seite 209-221). William Godsey dagegen untersucht das Verhalten einer österreichischen Hochadeligen im ausgehenden 19. Jahrhundert zum antiborussisch-proböhmischen Landespatriotismus (Seite 255-274). Und, um schließlich aus jeder der vier Themenkomplexe ein Beispiel zu nennen, analysiert Jonathan Spangler den Status und die Diskurse um den in Hofkreisen kursierenden inoffiziellen Soziotoyp der `Fremdprinzen´ im französischen Ancien Régime (Seite 117-141). Diese vielfältigen Ansätze und Beziehungskonstrukte zwischen der Berufung auf Nationalitäten, der Nutzung internationaler Identitäten, aber auch die Ablehnung bestimmter Nationalismen zeigt den breiten Wirkbereich der beiden Entitäten `Adel´ und `Nation´ exemplarisch, der sich nicht pauschal in wenige Feststellungen wird pressen lassen.

Ein Beispiel dafür ist die Verunglimpfung des Adels bei einem Anonymus der Arbeiterpresse, der sich noch 1912 anläßlich eines gerichtlichen Prozesses wider die Mörder eines ungarischen Bauernabgeordneten in Budapest gegen eine in seinen Augen angeblich bestehende `Adelsnation´ wandte. Hierbei handelte es sich mithin nicht um eine Selbstinanspruchnahme, sondern die fremde Etikettierung einer Adelsgruppe als scheinbar festgefügte und inklusive Gemeinschaft zur als unrechtmäßig wahrgenommenen Verteidigung von angemaßten Rechten. Dazu schrieb der erwähnte Anonymus:

„Ob in irgend einem halbasiatischen Provinznest oder in der europäisch übertünchten Hauptstadt, die Klassenjustiz des feudalen Junkerstaates funktioniert da wie dort mit verläßlicher Promptheit. Das zur neuerlichen Rechtsprechung über die Ermordung Andreas Achims delegierte Budapester Schwurgericht brachte das nämliche Kunststück zuwege wie jenes von Bekes-Gyula: zu erweisen, daß das vormärzliche Recht des Edelmannes, den Bauern straflos niederzuknallen, wenn schon nicht im Gesetz, so doch in der vaterländischen geheiligten Tradition noch fortbesteht [...] Nach derlei Praktiken überraschte es nicht, daß der bei der Verhandlung anwesende Vater der beiden Mörder Achims unmittelbar vor Fällung des Verdikts eine auffallend zuversichtliche Haltung zur Schau trug. Und endlich muß hier daran erinnert werden, daß der Oberste Gerichtshof dem Bauernabgeordneten Andreas Achim im vorigen Reichstagszyklus das Mandat aberkannte, weil es `durch aufreizende Agitation erlangt worden´ sei – was für die ungarischen Richter auch jetzt noch ein genug deutlicher Wink war, daß sie im Dienste der Adelsnation stehen“. [6]

Einen ganz anderen Nationsbegriff verwendete dagegen nahezu zeitgleich eine adelsfreundliche Presse 1894, wenn sie schrieb: „Der conservative böhmische Großgrundbesitz ist in den gestrigen czechischen Blättern ob seiner Haltung in den vorwöchentlichen Landtagsverhandlungen Gegenstand der heftigsten Angriffe [...] Kann sich da noch Jemand darüber wundern, wenn das Mißtrauen des böhmischen Volkes immer intensiver und die Entfremdung zwischen Adel und Nation immer größer wird?“. [7]

In diesem böhmischen Fall waren mithin `Adel´ und `Nation´ zwei verschiedene Entitäten, im Falle der ungarischen Verhandlungsbeobachtung angeblich nur eine Entität. Dieser besonders auch im angesprochenen Sammelband breit vermessene Raum zwischen `Adel´ und `Nation´ wird also auch noch künftighin genügend Stoff für Untersuchungen ähnlicher Art bieten. Das zeigen sowohl die Bandbeiträge als auch die hier zusätzlich ausgewählten historischen Beispiele als Indikatoren an. 

Herausgestellt hat sich eine sehr differenzierte Beziehungsgeschichte, die durch den Sammelband erstmals in einer bisher nicht aufgefächerten Fülle ausgeleuchtet worden ist. Und er zeigt auch, dass die Beziehung dieser zwei bedeutenden Begriffe nicht nur für die Formierungsphase der Moderne und das `lange´ 19.  sowie das frühe 20. Jahrhundert, sondern auch bereits zuvor von – einer heute eher wenig wahrgenommenen – Bedeutung gewesen ist.

Diese Rezension stammt von Claus Heinrich Bill (M.A., B.A.) und erscheint ebenso gedruckt in der Zeitschrift für deutsche Adelsforschung.

Annotationen: 

  • [1] = Zedlers Universal-Lexikon, Band XXIII., Halle / Leipzig 1740, Spalte 901-902.
  • [2] = Siehe dazu a) Ewald Frie: Friedrich August Ludwig von der Marwitz (1777-1837). Adelsbiographie vor entsicherter Ständegesellschaft, in: Heinz Reif (Hg.): Adel und Bürgertum in Deutschland, Band I. (Entwicklungslinien und Wendepunkte im 19. Jahrhundert), Berlin 2000, Seite 83-102, b) Josef Matzerath: Adelsprobe an der Moderne. Sächsischer Adel 1763 bis 1866. Entkonkretisierung einer traditionalen Sozialformation, Stuttgart 2006.
  • [3] = Generell dazu a) Karlheinz Barck (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe, Band IV., Stuttgart 2002, Seite 377-404, vor allem aber b) Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Band VII, Stuttgart 1992, Seite 141-431.
  • [4] = Martin Wrede / Laurent Bourquin (Hg:) Adel und Nation in der Neuzeit. Hierarchie, Egalität, Loyalität [im] 16.-20. Jahrhundert [Band 81 der Beihefte der Francia], erschienen im Verlag Thorbecke in Ostfildern im Dezember 2016, 339 Seiten, erwerbbar zum Preis von 45,00 Euro, Format 17 x 24 cm, fester Leinenband mit Schutzumschlag, ISBN: 978-3-7995-7472-3.
  • [5] = Dazu siehe methodisch den Abschnitt über Gründungserzählungen bei Harun Meye / Leander Scholz (Hg.): Einführung in die Kulturwissenschaft, München 2011, Seite 23-48. Ferner dazu auch Hubert Orlowski: Die Lesbarkeit von Stereotypen. Der deutsche Polendiskurs im Blick historischer Stereotypenforschung und historischer Semantik, Wroclaw 22005 sowie Hans Henning Hahn (Hg.): Nationale Wahrnehmungen und ihre Stereotypisierung: Beiträge zur historischen Stereotypenforschung, Frankfurt am Main 2007.
  • [6] = Nomen Nescio: Die zweimal freigesprochenen Mörder, in: Arbeiter-Zeitung (Wien), Nr. 18 vom 20. Jänner 1912, Seite 7. 
  • [7] = Montagsblatt (Montags-Revue) aus Böhmen (Prag), Nr. 5 vom 29. Jänner 1894, Seite 4 (titellose Meldung in der Rubrik „Kleine Chronik“).

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