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Pietistische Adelsfrauen im 18. JahrhundertUntersuchungen zur Trias von Adel, Pietismus und GenderfragenDer Adelsforschende und Schriftsteller Karl Roth von Schreckenstein kritisierte seinen eigenen Stand deutlich, als er 1856 in einem Rückblick auf die Geschichte des deutschen Patriziats die Moralität des Adels im „sinnlichen“ Barock negativierte: [1] „Die Unkirchlichkeit und Unsittlichkeit, das ist kein Geheimniß, war im 18. Jahrhunderte planmäßig in den ober[e]n Schichten der Gesellschaft ausgebreitet worden, ohne daß der römisch-katholische Clerus und die protestantische Geistlichkeit sich mit Energie widersetzt hätten. Glücklicher Weise konnte die sogenannte Philosophie nicht bis zum Bürgerthume und zum Bauernstande hindurchdringen. Das im Mittelalter wenn auch nicht stets getreulich geübte, aber doch im Allgemeinen niemals verläugnete Christenthum zeigte abermals seine Gotteskraft und überwand sicheren Schrittes die menschlichen Aftergebilde, welche es verdrängen wollten. Bei diesem Kampfe gegen Unglauben und frechen Spott haben sich sehr viele Protestanten großes Verdienst erworben, ja es steht sogar fest, daß der im 18. Jahrhunderte auftauchende edlere Pietismus zu den erfreulichen Erscheinungen gehört. Der Pietismus zeigte sich besonders im Handwerkerstande, unter den Familien subalterner Beamter, überhaupt unter derjenigen Classe, die von der äußerlich, üppig und anmaßend gewordenen Aristokratie nicht beachtet wurde“. [2] Diese Aussage werde, so Roth von Schreckenstein, auch nicht geschmälert durch die Tatsache, daß der Pietismus von Personen aus dem hohen Adel nicht nur begünstigt, sondern sogar hervorgerufen worden sei. [3] Mithin wäre der Pietismus als religiöse Sonderform verinnerlichter und praxiswirksamer Religosität [4] nur ein Bedürfnis von sozialen „Randgruppen“ am oberen und unteren Ende der ständischen Gesellschaft gewesen, während der adelige „Mittelbau“, die große Adelsmasse, davon unberührt geblieben sei. Betrachtet man einen neuen Sammelband zum Thema Pietismus mit neuesten Forschungsergebnisse, könnte diese These gestützt werden. Doch widmet sich der erwähnte Band [5] erstmals als Zusammenfassung etlicher Beiträge einer wissenschaftlichen Tagung vom Oktober 2015 in den Franckeschen Stiftungen in Halle an der Saale der bisher noch wenig beachteten Trias aus Pietismus, Adel und Gender, wobei man korrekterweise konstatieren muß, daß es in den Beiträgen nicht um alle möglichen Genderfragen, sondern fast ausschließlich um Frauenfragen geht, der Band daher eher „Pietismus, Adel und Frauen“ heißen sollte; so werden spezielle Männlichkeitsbezüge in Hinsicht auf den pietistischen Adel nur in der Minderzahl und randseitig in Bezug auf deren theoretischen Hintergrund erörtert. [6] Gleichwohl bietet der Band eine bereichernde Fülle der Forschungslandschaft als Hybridisierung aus den Ansätzen des religions-, sozial- und geschlechtsgeschichtlichen Blickwinkels. Anfangs werden in einem einleitenden Beitrag die drei Begriffe definiert, wobei auffällig ist, daß sich hier der Ansatz „Un/doing Nobility“ noch nicht durchgesetzt hat, [7] weil – lediglich mit Rekurs auf Sikora und Asch – von Adel noch als einer heterogenen Gruppe, die ständigem Wandel unterworfen gewesen sei, gesprochen wird (Seite 4), [8] während Gender bereits als konstruktive und performative soziale Kategorie verstanden wird, als die man den Adel auch hätte ansehen können (dies gilt insbesondere für Mittelalter und frühe Neuzeit, aber – entgegen landläufiger Annahme in der bisherigen Forschung – auch für die Neuzeit bis 1918). Indes ist die Konstruktion von Adel auch nicht das Hauptthema des Bandes, obschon die Absicherung eines adeligen Habitus durchaus mit pietistischen Neigungen zusammengehen konnte. Die im Band mit den 13 Aufsätzen gebildeten vier Sektionen „Perspektiven“, „Herrschaft“, „Handlungsräume“ und „Schreiben“ umreißen indes das vielfältige Spektrum, mit denen sich die erwähnte Trias untersuchen läßt. So weist der Band darauf hin, daß reichsgräfliche Adelige den Pietismus zur Bewältigung einer Konkurrenz-Krise nach 1700 (durch Neunobilitierte) annahmen, einen „neuen Menschen“ schaffen wollten, heilsgeschichtliche Aspekte verstärkt zum Ausdruck brachten und auch auf das häusliche Agenda-Setting setzten. Dies führte sogar zur Ausbildung einer spezifisch „pietistischen Adelsethik“ (Seite 9), die unter anderem eine Eliten-Amalgamisierung zwischen reichsgräflichen und bürgerlichen Akademikern intensivierte, z.B. in direkten personalen Netzwerken und in über Distanzen gehenden Briefwechseln. Dabei erwies sich der Pietismus als besonderer Handlungsspielraum auch von adeligen Frauen. Somit bot diese religiöse Orientierung dem Adel eine Qualifizierung seiner Kultur, um der um hin herum zunehmenden Kultur der Quantifizierung etwas entgegenzusetzen; das aristokratisierende Ideal des Tugendadels ergänzte dabei den Geschlechtsadel und „veredelte“ ihn im Gegensatz zum umgebenden Nur-Geblüts-Adel (Seite 9 und 59-71). [9] Ein weiterer Beitrag zeigt das Eindringen pietistischer Grundsätze in weibliche Vormundschaftsregierungen, hier am Beispiel Reuß erläutert (Seite 73-95). Weiter wird nachgewiesen, daß auch die adelige Heiratspolitik vom Pietismus beeinflußt wurde und entsprechende frömmigkeitsintensivierende Aspekte bei der Partnerwahl eine Rolle spielen konnten. Dies reichte hin bis zu standesungleichen Ehen und Mesaillancen, die sich unter anderem in den Heiraten (teils hoch-) adeliger Frauen mit ihren Hofpredigern oder anderen Theologen bürgerlicher Herkunft äußerten. Ebenso hatte der Pietismus Auswirkungen auf die Wirtschaftspraxis des Adels, weil hier Askeseanspruch und Leistungsprinzip eigene Mäßigung im Sinne einer interständisch agierenden Zielsetzung das Wohl der Menschheit (wenn auch mit dem letzten Ziel der Errichtung eines neuen Reiches Gottes) befördern sollte (siehe dazu den Beitrag von Becker-Cantarino auf Seite 155-177). Dies Engagement drückte sich aber auch, wie Schloms in einem eigenen lesenswerten Aufsatz (Seite 179-191) in der Tätigkeit adeliger Frauen des Pietismus für Waisenhäuser, deren Errichtung, Unterhaltung und Zukunftsabsicherung darlegt, aus. Einflüsse des pietistischen Gedankenguts auf die genderbezügliche
Erziehung von Kindern (Seite 193-207) werden darüber hinaus in dem
Band ebenso erörtert wie die Einsickerung des Pietismus in die Leichenpredigten,
die eine Verklärung der Verstorbenen [10] ebenso wie eine erzieherische
Wirkung auf die Lebenden haben sollten (siehe dazu den Beitrag von Niekus
Moore auf Seite 211-225). Dabei spielte insbesondere bei Leichenpredigten
adeliger Frauen das Motiv der willentlich gesuchten und als sakrale Tugend
angestrebten oder auch (angeblich oder tatsächlich) ausgeübten
Hof- und Weltflucht sowie der Wunsch nach säkularer Schmucklosigkeit,
wie sie noch Ende des 20. Jahrhunderts von adventistischen Gemeinden vertreten
worden ist, [11] eine besondere Rolle.
Der Band weist zudem eindrücklich darauf hin, daß die in Moderne und Postmoderne entwickelte Privatisierung des Religiösen im Adel der frühen Neuzeit noch nicht eingetreten war, [12] sondern das Religiöse als wesentlicher Bestimmungs- und Orientierungsfaktor für das Erdenleben gelten konnte. Vor dem Hintergrund der Nachgeborenensicht geht dieser Aspekt häufig verloren; mit dem vorliegenden Sammelband, dessen Beiträge zudem bequem über ein angehängtes Personen- wie Ortsverzeichnis (Seite 245-255) erschlossen worden sind, ist er ins Bewußtsein zurückgekehrt und bietet nicht nur der landesgeschichtlichen Adelsforschung im sächsischen Raum zahlreiche Befunde und Anregungen. So vertritt der Band die Auffassung, daß sich adelige Repräsentation und verinnerlichte Frömmigkeit keineswegs ausschließen mußten oder Antagonisten gewesen seien; höfisches Decorum blieb weiterhin aktuell und wurde gepflegt, nur nach innen wurden Tanz, Theater und Tafelfreuden eingeschränkt (Seite 21); von einer „Dissonanz“ zwischen Adelsanspruch und religiösem Askese-Gebot müsse daher keine Rede sein (Seite 22). So formulierte es auch der Herrnhuter Graf Ludwig v.Zinzendorf (1700-1760) in seinem Wiegenfest-Gedicht „Auf der verwittibten Frau Gräfin zu Castell zum 51ten Jahrs-Tag“ aus dem Jahre 1722: „Als Christ ist man nicht Graf, nicht Fürst, nicht edler Ritter. Di[e]s dünkt dem edeln Geist ein ungereimter Tand. Ihr nicht! ist Christi Wort: Die Lehre schmekt wo[h]l bitter, Wenn man des Christen Staats Gesetze nicht erkan[n]t. Denn hiemit werden nicht die Stände aufgehoben: Die sind in ihrer Art als wie ein Boten-Schild, Damit wir durch das Land der Cananiter traben, Wo als ein Passeport der Ehren-Titul gilt. Wie macht es dann ein Christ, bey dem sich Würde zeiget? Er braucht sich seiner Höh, in grosser Niedrigkeit; Sitzt er im Fürsten-Glanz, die Seele liegt gebeuget, Und hälts für Tages-Last der letzten bösen Zeit.“ [13] Hier kommt eben jenes adelige Understatement zum Ausdruck, das später „elegante Frugalität“ genannt werden wird [14] und durchaus im Adelsselbstverständnis nicht als ungewöhnliche „Paradoxie“ beschrieben werden muß. Denn wer eine Würde besitzt, die andere Menschen nicht besitzen, verleiht sich selbst gerade dadurch einen höheren Rang, daß er in demonstrativer Schlicht- und Kargheit – scheinbar – auf seine Würde verzichtet. [15] Im Sammelband werden indes nicht nur Loblieder auf den Pietismus angestimmt. Auch negative Wirkungen des Pietismus bleiben nicht unerwähnt. Hier wird deutlich, daß auch diese christliche Richtung bei entsprechender Bibelauslegung der Schwertverse (statt der Liebesverse) intolerant sein konnte. [16] Wegweisend ist in dieser Beziehung der Beitrag von Mahling; sie weist auf derartige Konflikte hin (Seite 131-151); dort wird ein Fall einer Reichsgräfin Gersdorf auf Uhyst verhandelt, bei dem die Ansiedlung von Herrnhutern in der Lausitz verhindert wurde, weil die Gräfin dem Halleschen Pietismus angehörte. [17] Diese Erkenntnis der Konkurrenzen unter den pietistischen Richtungen weiter auszubauen, insbesondere in Bezug auf den Adel, dürfte einer der interessanten künftigen Forschungsfragen sein; der in Rede stehende Band hat hier richtungsweisende und kräftige Impulse gegeben. Diese Rezension stammt von Claus Heinrich Bill, M.A., B.A., und erscheint ebenso gedruckt in der Zeitschrift für deutsche Adelsforschung. Annotationen:
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