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IndustrieritterVorstellung eines Betrügertyps der GründerzeitDer deutsche Begriff "Industrieritter" (französisch »Chevalier d'industrie« oder »aigrefin«, englisch »mob´s man« oder »swell«, [1] italienisch »cavaliere d´industria«) [2] entstand aus zwei eigentlich unvereinbaren Beschreibungen von Typpersönlichkeiten aus dem Ancien Régime ab etwa 1770, besaß seine Blütezeit im Biedermeier, Nachmärz und in der Gründerzeit zwischen hatte bis etwa 1918 Bestand. Er vereinigte die gegensätzlichen sozialen Typen der Karikatur eines adeligen Ritters als eines Angehörigen der müßigen Oberschicht mit dem des geschäftstüchtigen und kapitalistisch orientieren Verbrecher und stellte eine Melange zwischen pseudoindüstriösem und pseudoaristokratischem Geist dar. Der Begriff etablierte sich im Zuge der Indüstriebewegung ab etwa 1770, die sich der Vervollkommnung menschlicher Arbeitskraft durch technische Hilfsmittel zum Ziel gesetzt hatte. Aber der Industrieritter war weder am Adel noch an der Arbeit an sich interessiert, sondern eignete sich diese Attitüden und lediglich den Habitus an, am damit als Maske zu arbeiten. Auf diese Weise versuchte 1855 in großen deutschen Städten der von den Polizeibehörden so bezeichnete I. und verschuldete ehemalige Versicherungsangestellte Alexander Levy unter dem Namen »Alexander Graf Dumont de Recio« zum geschäftlichen und betrügerischen Erfolg zu kommen. Über ihn hieß es seitens der Verfolgungsbehörden: „An einen von ihm noch nicht besuchten Ort kommend, prüft er das Terrain genau und vorsichtig, imponirt seiner Umgebung durch vornehme Manieren und sucht die Behörde durch eine legale Haltung zu täuschen. In politischer Beziehung scheint er weniger bedenklich als durch seinen Verkehr mit bekannten Schwindlern. Auf seinen Reisen ist er in Gesellschaft einer jungen Dame von sehr interessantem Äußeren, die er als seine Tochter ausgiebt.“ [3] Levy benutzte damit genau die beiden hervorstechendsten Merkmale des Industrieritters als Sozialtyp eines industriösen Nonkonformisten. Der Begriff I. stellte somit eine Symbiose sich dichotom gegenüberstehender Ziele und Motive dar. Er stand namentlich negativ konnotiert für eine Person, die mit undurchsichtigen Geschäftsmethoden arbeitete, um mit Hinterlist und Tücke ihre Geschäftspartner zum eigenen Vorteil betrog, die Indüstrie anderer Menschen auszunutzen und den Gewinn selbst einzustreichen. Insofern war der I. ein »sozialer Parasit«, [4] der sich vom Ritterbegriff nur die gespielte Vornehmheit und die Abneigung gegen gewöhnliche Arbeit ausgeliehen hatte. Industrieritter gehörten damit der »unechten müßigen Klasse« einer Gesellschaft an, [5] die über unredliche Methoden, die im Gegensatz zur echten müßigen Klasse des Adels als wenig ehrenvoll galten, dem Müßiggang huldigten. Die Bezeichnung "Industrieritter" ist indes historisch äußert heterogen auf eine Vielzahl von Personen angewendet worden: "Wie man Schneider, Schuster, Krämer, Schriftsteller ist, just so ist man auch Industrieritter. Aber diese Klasse gleicht in der Gesellschaft den Käfern in der Insektenwelt: Sie ist äußerst vielgestaltig und kommt allüberall vor, in den aristokratischen Salons wie in der verworfensten Kneipe, in der Werkstätte wie im Studierzimmer. Es gibt derlei Ritter im Federhut und den Degen an der Seite, es gibt welche mit dem Aktenbündel unter dem Arm, im abgetragenen Rock wie im elegantesten Fral, mit der modischen Reitpeitsche und dem Hakenstock des Lumpensammlers ... Wer kein Gewerbe hat, das ihn nährt, kommt naturgemäß dazu, auf Kosten der Narren und Gimpel sein Leben zu fristen, und wird durch Übung ein Proteus, der überall dem Gesetze durch die Hand schlüpft ... Der Industrieritter ist ein Dieb, aber ein feiger Dieb, ein Räuber, desto gefährlicher, weil er einem nicht frank zuruft: »La bourse ou la vie!«, sondern einen lächelnd plündert, und noch eine Protektionsmiene macht, während er einen auszieht ... dieser noble Orden ist durch alle Stände der Gesellschaft verzweigt; der Bettelbube, der zu heulen anfängt, sobald er Jemanden kommen sieht, und den Mitleidigen, der ihm ein Almosen gibt, hinter dem Rücken auslacht, und der Mächtige des Tages, der durch seinen Einfluß der Mittelmäßigkeit und Kriecherei emporhilft, sind nur die beiden Pole einer unendlichen Reihe. Der I. kleidet sich in jede Tracht, nimmt jede Form und Gestalt an. Oft spricht er hoch herab, viel häufiger ist er glattzüngig und kriechend." [6] Bedingt durch diese Heterogenität entwickelten sich bestimmte
Typen des Industrieritters heraus: Der Grundtyp war der »ökonomische
Industrieritter«, meist ein mit unaufrichtigen Methoden arbeitender
dubioser Geschäftsmann. Es kam jedoch auch vor, daß lediglich
mißliebige Konkurrenten von Gleichgestellten ohne eigentliche Grundlage
als I. bezeichnet wurden, nur um diese in den Augen der potentiellen Kundschaft
zu diskreditieren. [7] Zu den »literarischen I.« zählten
in den Augen der Intellektuellen mit hohem Anspruchsniveau die Vielschreiber
der primitiven Groschenromane, [8] aber auch Schriftsteller wie der Romanfabrikant
Alexandre
Weiters gab es die »wissenschaftlichen I.«, die von
der etablierten Gelehrsamkeit als mit unredlichen Methoden arbeitende Renegaten
beschrieben wurden, [10] zu denen beispielsweise der betrügerische
archäologische Raubgräber Luigi Palma di Cesnola (1832-1904)
zählte. [11]
In allen diesen Zusammenhängen wurde der I. trotz unterschiedlicher
Ausgangslage als abqualifizierende Fremdbezeichnung gebraucht, deren Grundlage
die unterstellte Unmoralität des Verhaltens der Betreffenden seitens
des Bezeichnenden war. [16] Eine Zuschreibung positiver Eigenschaften zum
I. fand nur selten statt. Eine Ausnahme bildet Klencke, der im Jahre 1858
prophetisch den I. als den kommenden Typus des Geschäftsmannes der
Geldkultur, der infolge der Vollentfaltung des Kapitalismus in der Gründerzeit
und der Erstarkung des Bürgertums gegenüber dem Adel die Welt
beherrschen würde, sah. Hier wurde der Industrieritter als Symbol
semiotisch umgedeutet und war lichtbesetzter Künder einer neuen Zeit:
"Wie kann man einen Gauner einen Industrieritter nennen? Eine Beschimpfung
unseres heutigen Zeitgeistes, die Industrieritter sind die wahren Ritter
der Zeit und vom Geiste - sie werden in fünfzig Jahren die Herren
der Rittergüter sein ... sie werden die Aristokraten als solche verdrängen
und die Ritter von Sporn und Schwert in Ritter vom Schilde umwandeln, aber
vom Aushängeschilde der Firma. Was sind unsere Ritter? Es sind jene
Fixsterne, die so weit in grauer Ferne liegen, daß, wie die Astronomen
Die sozialgenealogischen Nachkommen des spanischen Barbiers Figaro, die in Casanova, Saint Germain oder Cagliostro ihre typischen Vertreter der Frühen Neuzeit fanden,18 waren zudem vorwiegend ein urbanes Phänomen, da sie in der Stadt als Lebensform mehr leichtgläubige und aufgeschlossenere Zeitgenossen fanden als auf dem konservativen Land;19 außerdem waren sie ein Spiegel gesellschaftlicher Zustände, [20] Männer, die die psychologischen Eigenschaften ihrer Mitmenschen zu durchschauen und zu ihrem Vorteil anzuwenden wußten. Den Sozialtypus des Industrieritters hat Honoré de Balzac treffend in seinem Roman »Glanz und Elend der Kurtisanen« exemplarisch geschildert: "Dieser junge Mann, einer der verwegensten Industrieritter, der Sohn eines Gerichtsvollziehers in Boulogne bei Paris, heißt Georg Maria Destourny. Der Vater, der sich gezwungen sah, seine Stellung unter wenig gedeihlichen Umständen zu verkaufen, ließ seinen Sohn um 1824 ohne alle Mittel zurück, nachdem er ihm jene glänzende Erziehung gegeben hatte, auf die die kleinen Bürger für ihre Kinder versessen sind. Mit dreiundzwanzig Jahren hatte der junge, glänzende Student der Rechte seinen Vater bereits verleugnet, indem er seinen Namen auf der Visitenkarte also schrieb: »Georg d'Estourny«. Diese Karte gab seiner Persönlichkeit einen Hauch von Aristokratie. Der elegante junge Mann war verwegen genug, sich einen Tilbury und einen Groom zu halten und die Klubs zu besuchen. Ein Wort wird alles erklären: Er spielte an der Börse mit dem Gelde der ausgehaltenen Frauen, deren Vertrauter er war. Schließlich unterlag er vor dem Zuchtpolizeigericht, wo man ihn beschuldigte, sich allzu glücklicher Karten bedient zu haben." [21] Dieses Bild des Industrieritters als eines arbeitsscheuen Spekulanten mit einem Hang zum Glücksspiel hielten Kulturpessimisten wie Wilhelm Scherer 1872 für ein Synonym kulturellen Verfalls: "Wir liegen auf den Knien und beten an den Gott der materiellen Interessen, Mercurius, der Schutzpatron der Kaufleute und Industrieritter, das ist der Heilige, dem wir Altäre bauen." [22] Als personalisierter Antagonistentyp des Konservatismus war die Begrifflichkeit des Industrieritters war zeitweise so populär, daß sie in der Hochepoche des nachmärzlichen Realismus auch auf Personen angewendet wurde, die schon lange verstorben waren; so wurde in einer Enzyklopädie des Jahres 1855 der bekannteste spätmediävistische französische Balladendichter Francois Villon (1431-1463) als "Industrieritter" bezeichnet, obwohl seinerzeit die Indüstriebewegung erst im Aufblühen begriffen war. [23] Der Begriff I. starb spätestens im Jahre 1918 mit dem Ende des Deutschen Kaiserreichs und war bereits um die Wende vom XIX. zum XX. Jahrhundert in den Begriff »Hochstapler« überführt worden. [24] Hierbei läßt sich auch eine modifizierten Begriffssemantik feststellen, da die Taten der Hochstapler nun nicht mehr nur auf die bloße Unterstellung der Sittenverletzung schließen ließen, sondern bei Nichtbetroffenen häufig eine heimliche Bewunderung für Hochstapler hervorrief. Denn anders als der vorgeblich nur seinen egoistischen Instinkten folgende Industrieritter hielt der Hochstapler der Gesellschaft einen Spiegel vor. Daher fanden Hochstapler mit ihren Memoiren oder mit Interviews eine dankbare Leserschar. Teils zogen sie daraus auch pekuniären Nutzen, von dem sie sogar ihren ferneren Lebensunterhalt bestreiten konnten. [25] Wo der Industrieritter Heimtücke und List »im Kleinen« benutzte, erlaubte man dem Hochstapler dieselben Eigenschaften »im Großen« anzuwenden, ohne sie tragisch zu nehmen. Industrieritter wurden daher als gewöhnliche catilinarische Existenzen und Betrüger, Hochstapler aber, wie der Schuhmacher Wilhelm Voigt (1848-1922) als »Hauptmann von Köpenick«, als humorige volkspädagogisch wertvolle Schulbeispiele gesellschaftlicher Schwächen besehen. Somit blieb dem Industrieritter fast kontinuierlich in seiner Geschichte als europäischer Sozialtypus lediglich der Makel der Ehrlosigkeit und Asozialität anklebend, ohne daß er sich davon befreien konnte. Literaturhinweise:
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© Dr. Claus Heinrich Bill, M.A., M.A., B.A. – Das Deutsche Steckbrief-Register ist ein wissenschaftliches Bestandserschließungsprojekt versteckter deutscher Archiv- und Bibliotheksbestände unter Federführung des Instituts Deutsche Adelsforschung zum Zwecke der devianten Familienforschung und Ahnenforschung im Bereich historischer sozialer Randgruppen. |